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Feuer der Freiheit
BallHaus Ost: Gutmenschliche Ratschläge aus den Kellern der Korruption
Es ist Sonntag. Ich checke die Lage. Ich denke über eine Gesprächsrunde nach. Motto: Wir werden ewig reden. Ich bin voll bis an den Rand. Voll Liebe und Freiheit. Ich bin ein Fass Feuer der Freiheit. Wir wohlgenährten Mitteleuropäer fühlen uns besonders prädestiniert, unseren Nachbarn mit guten Ratschlägen in allen Lebenslagen auf den Sack zu gehen: Weniger Atomkraft hier, mehr Demokratie wagen da, setzt der Korruption das Messer an den Hals.
In seiner Kolumne "Ballhaus Ost" blickt Frank Willmann alle zwei Wochen auf die Geschehnisse im Ostfußball - das wilde Treiben in den Stadien zwischen Leipzig, Łódź und Ljubljana.
Alle Texte finden sie unter dasnd.de/ballhaus
Wir vergessen dabei immer ein wenig unsere eigenen Leichen im korrupten Saftladen. Wenn ich beispielhaft an die legendäre Beckenbauerleiche erinnern darf? Angeblich soll er ja laut Bildzeitung noch leben. Irgendwo im Hinterwald, wo ihn die redlichen regionalen Analphabeten nach wie vor anbeten – ja, ich meine Österreich, dieses Land, wo sich der Alpengrind regelmäßig in die Hirne der Depperten fräst. Diesen Kaiser verherrlichte bis vor einigen Jahren auch noch halb Fußballdeutschland, weil dieser korrupte Kumpel mit seiner jovialen Attitüde Deutschland wiederholt den Lorbeerkranz flocht.
In meiner Heimatstadt Weimar aßen wir in der Not noch verschämt Katzensuppe, als Franz und die rammdösige Bayernbrut in den frühen Siebziger Jahren bereits das Prinzip der schwarzen Kassen perfektionierte. Im Amigo-Bundesstaat kein Problem, schließlich war der Finanzminister Vereinsmitglied und wusste nur zu gut, wo Barthel den Most holt. Steuern zahlen nur Dummköpfe, dieser tiefen Einsicht folgte man fortan in Bayern gern. Nicht schlechterdings verschämt möchte ich hier auf den Uhrenschmuggler Kalle und den Steuerbetrüger Hoeneß erinnern. Beiden Bösewichtern ist in den Quadratschädeln der Fans längst verziehen, wenn ein paar Jahre Gras drüber gewachsen ist, werden diese Bauernfänger wieder die höchsten Ehren genießen. Ich zähle jetzt schon die Orden und Gastprofessuren (für Wirtschaftsrecht ganz bestimmt), die schon bald ihre Urkundenmappen und Heldenbrüste schmücken werden.
Im Vergleich mit den genannten Schlimmfingern fällt unser kleines Zönchen (alias DDR) geradezu mager aus. Hier ließen sich Schiedsrichter schon für zehn Mark (West) oder einen Kasten Radeberger bezirzen, meinen zumindest die ewig betrogenen Sachsen aus den Tälern der Ahnungslosigkeit, wenn das Wortungetüm Dauermeister BFC Dynamo fällt.
Ich las gestern, von hundert Menschen kann man höchstens zwanzig als nicht geistesgestört bezeichnen. Nimmt man diesen Wink als Maßstab, bleibt einem eigentlich nur Saufen, Drogennehmen und brave Bürger verschrecken. Weil mir aber höhere Wesen im Sommer 2020 befahlen, mich fortan um die gedankliche Nichtblödheit von Fußballfans zu scheren, werde ich mich ab sofort um eure Ostereier bemühen und beispielsweise den Fußball in der Sowjetunion beleuchten. Wer weiß denn schon, dass im Jahr 1982 im Moskauer Luschniki-Stadion bei einer Massenpanik mindestens 66 Menschen starben? Spartak Moskau, seinerzeit der beliebteste sowjetische Verein, spielte am 20. Oktober vor 39 Jahren im Europapokal gegen den HFC Haarlem aus den Niederlanden. Obwohl in der Riesenschüssel, in die damals mehr als 80 000 passten, nur 16 000 Zuschauer chillten, kam es wegen verschiedener bedauerlicher Fehlentscheidungen beim Abmarsch der Menschen zu einer Massenpanik.
Es war nicht die erste und nicht die letzte in der Fußballgeschichte. Die Stadien der Welt sind voll von Erinnerungsorten, die uns die Toten des Fußballs ins Gedächtnis rufen. Jeder von ihnen ist einer zu viel, darum gedenken wir heute ihrer, pflegen das philosophische Gespräch über das Sein und das Nichts und schmücken unsere Fenster mit einer Kerze.
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