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Vor der Vernichtung »mit kaltem Blick« erforscht
In der Topographie des Terrors in Berlin läuft noch bis April 2022 eine Ausstellung über nationalsozialistische Menschenbilder
»Das jüdische Tarnów existiert nicht mehr«, heißt es unter Fotos, die die polnische Stadt nach der Befreiung durch die Rote Armee im April 1945 zeigte. Zu sehen sind diese in der Sonderausstellung »Der kalte Blick«, die derzeit im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in Berlin-Mitte gezeigt wird. Im Mittelpunkt steht die akribisch geplante Vernichtung der jüdischen Menschen von Tarnów durch von deutschen Wehrmachtssoldaten verübte Pogrome. Im Vorfeld der Vernichtung wurde der Ort zum Spielfeld nationalsozialistischer Forschungsinteressen.
Zu Beginn des Jahres 1942 lebten im polnischen Tarnów etwa 30.000 Jüdinnen und Juden. Die Stadt, die jüdisch Tarne genannt wurde, war ein Zentrum für jüdisches Leben in Westgalizien, bis die deutsche Wehrmacht dem mit ihren Mordprogramm ein Ende setzte. Im Juni 1942 begann der Massenmord. Tausende Menschen wurden auf dem Marktplatz zusammengetrieben, SS und Polizei stürmten die Häuser und zerrten die Menschen auf die Straße. Einige wurden sofort erschlagen oder erschossen. Viele wurden ins Vernichtungslager Bełżec deportiert und dort mit Motorabgasen ermordet, Tausende auf dem Jüdischen Friedhof von Tarnów und in einem nahe gelegenen Wald erschossen. Von den nichtjüdischen Nachbar*innen hatten sie wenig Solidarität zu erwarten. Auf einem Foto sieht man Schilder an einigen Häusern mit der Aufschrift: »Hier wohnen arische, christliche Einwohner.« Es war eine Botschaft an die Mordbrenner, damit sie das Haus verschonen würden. Aber es kann auch als eine Distanzierung von den verfolgten jüdischen Menschen verstanden werden.
Vor ihrer Vernichtung wurde die jüdische Bevölkerung noch Objekt der Erforschung durch zwei NS-Wissenschaftlerinnen, die sich vom 23. März 1943 bis zum 4. April 1943 im Ghetto von Tarnów aufhielten und ihr Projekt zur »Erforschung typischer Ostjuden« vorantrieben. Es handelte sich um Elfriede Fliethmann vom Institut für Deutsche Ostarbeit und Dora Maria Kahlich vom Anthropologischen Institut der Universität Wien. Die Ausstellung dokumentiert das Vorgehen der beiden Anthropologinnen.
Der auf Anordnung der deutschen Besatzer zwangsweise gebildete Judenrat hatte ihnen 106 Familien mit mindesten zwei Kindern, die älter als vier Jahre alt sein sollten, benennen müssen. Der Sicherheitsdienst der SS befahl 565 Männer, Frauen, Kinder zum Ort der Untersuchung. Die Wissenschaftlerinnen trugen dort biografische Daten zusammen, vermaßen die Körper der ihnen Zugeführten, bestimmten Haar-, Haut- und Augenfarbe. Nacktfotos wurden angefertigt sowie von jedem und jeder Untersuchten vier anthropometrische Aufnahmen: von vorn, in der Drittelansicht, im Profil und frontal, den Kopf in den Nacken gelegt.
Teile dieser Arbeit sind in der Ausstellung zu sehen. Doch die Fotos der Untersuchten sind auf quergestellte Wände gestellt, die die Besucher*innen nur teilweise sehen können. Damit ist in diese Exposition eine Sperre eingebaut, die die Besucher*innen zum Nachdenken bringt. Schließlich sehen wir hier Menschen, die durch eine zwangsweise durchgesetzte Untersuchung zu Objekten degradiert wurden. Zudem wissen wir als Betrachter*innen, dass die Menschen nur kurze Zeit später ermordet worden sind. Das war den Anthropologinnen durchaus bewusst. Schließlich schrieb Fliethmann im Herbst 1942 an ihre Kollegin Kahlich: »Von den Tarnówern sind im Ganzen noch 8000 da, aber wie mir Bernhardt (gemeint: der Chef des Sicherheitsdienstes Willi Bernhard) sagte, von unseren fast niemand mehr. Unser Material hat also heute schon Seltenheitswert.« Von den Menschen, die Fliethmann und Kahlich beforschten, überlebten nur 27 Personen den Holocaust.
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Kahlisch wiederum befürchtete, die Jüdinnen und Juden könnten ermordet werden, bevor sie beforscht und gemessen sind. »Unter Umständen könnte durch zu langes Warten wertvolles Material entgehen«. Sowohl Fliethmann als auch Kahlisch konnten nach 1945 mit kurzen Unterbrechungen ihre wissenschaftliche Arbeit fortsetzen, wie in der Ausstellung zu erfahren ist. Sie waren bei weitem nicht die Einzigen, die nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus schnell wieder Karriere in der BRD machten. Der Fotograf, der für die beiden Frauen arbeitete, Rudolf Dodenhoff, eröffnete 1949 in seinem Heimatort Worpswede ein Fotogeschäft, seine Tätigkeit im Nationalsozialismus wurde erst kurz vor seinem Tod bekannt.
Die Ausstellung »Der kalte Blick - Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów« ist noch bis zum 17. April 2022 als Sonderaustellung in der Topographie des Terrors täglich von 10-20 Uhr zu sehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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