Gefangene des sowjetischen Lagers

Diskussion über umstrittene Gisela-Gneist-Straße auf dem Gelände eines KZ-Außenkommandos geht weiter

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.

Gisela Gneist soll die Nazizeit verharmlost und gegenüber Neonazis keine Berührungsängste gezeigt haben. Darum ist der Entschluss der Stadt Oranienburg, eine Straße im neuen Wohngebiet Aderluch nach ihr zu benennen, so umstritten. Doch wer einen Schlagabtausch zwischen Stiftung brandenburgische Gedenkstätten und Stadtverwaltung erwartet, sei hier falsch, stellt Andrea Genest am Montagabend klar. Es soll sachlich diskutiert werden, kündigt die Leiterin der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück zu Beginn der Videokonferenz an. Das gelingt den Teilnehmerinnen tatsächlich, obwohl die Historikerin Annette Leo, die Bundestagsabgeordneten Anke Domscheit-Berg (Linke) und Ariane Fäscher (SPD) sowie die Stasi-Landesbeauftragte Maria Nooke in etlichen Fragen unterschiedlicher Ansicht sind.

Von den Zuhörern bekommen das nicht alle in gleicher Weise hin. In den Chat werden Kommentare getippt wie: »Kann jemand mal Frau Domscheit-Berg klarmachen, dass es hier um die Nachkriegsverbrechen der Sowjets geht.« Oder: »Es gibt ein schlechtes Gutachten und keine Möglichkeit, es zu kritisieren. Leute in Oranienburg, das geht nicht gut für euch aus.«

Die Rede ist von einem Gutachten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte mit schweren Vorwürfen gegen Gisela Gneist. Als 15-Jährige war sie 1945 wegen Mittuns in einer antisowjetischen Gruppe verhaftet und zu neun Jahren Haft verurteilt worden. Von 1946 bis 1950 saß sie im sowjetischen Speziallager Nr. 7, das die Baracken des befreiten Konzentrationslagers Sachsenhausen zur Internierung von Deutschen nutzte. 1995 wurde Gneist Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945- 1950, was sie bis zu ihrem Tod 2007 blieb.

Dass es keine Möglichkeit gebe, das Gutachten zu kritisieren, ist schlichtweg falsch. Die Stasi-Landesbeauftragte Nooke tut es ja am Montagabend, nennt das Ende November veröffentlichte Papier »einseitig«. Das Gutachten bleibe weit hinter dem zurück, was eigentlich Standard sei. »Es gibt keine nationalsozialistische Schuld, die man diesem 15-jährigen Mädchen anlasten kann«, findet Nooke. Ganz generell stört sie, dass im Beirat der Gedenkstätte Sachsenhausen für die Zeit des Konzentrationslagers 14 Mitglieder sitzen, im Beirat für die Speziallagerphase aber nur sechs. »Daran sieht man, dass es eine Gewichtung gibt.« Das würde die Stasi-Beauftragte, die in dem zweiten Beirat vertreten ist, gern ändern. Ihr missfällt auch, dass die beiden Beiräte nie gemeinsam tagen und dabei über die »doppelte Geschichte« nachdenken.

Ob Gneist im Bund Deutscher Mädel (BDM) war, sei ihr egal, versichert die Politikerin Domscheit-Berg. »Das ist nicht mein Problem mit Gisela Gneist.« Problematisch sei das Verhalten dieser Frau in den 90er und 2000er Jahren, problematisch die damals in Sachsenhausen geplante Gedenkfeier für den 1983 gestorbenen Speziallagerhäftling Hans Heinze. Der nämlich war als Psychiater in der Nazizeit tief verstrickt in den Mord an Patienten, in die Tötung psychisch kranker Kindern mit Giftspritzen.

Das habe Gneist nicht gewusst, als sie im Speziallager saß. Da war Heinze der Arzt, der sich aufopferungsvoll um Mithäftlinge kümmerte, die an Tuberkulose erkrankt waren. Da hätten alle zu ihm aufgesehen. So erzählt es Historikerin Annette Leo. Sie weiß es von Gisela Gneist, die es ihr selbst erzählt habe, als in den 90er Jahren um die Gedenkfeier für Heinze gestritten wurde. Aber jetzt wisse sie es, hat Leo damals dagegengehalten. Darauf soll Gneist nichts mehr gesagt haben.

Leo hat auch ihre Probleme mit Gneist. Sie hat mit ihr gestritten, sich aber nicht verstritten, wie sie betont. Diejenigen, die auf die Idee einer Gisela-Gneist-Straße kamen, »haben Gisela Gneist damit keinen Gefallen getan«, meint Leo. Denn das koche nur die Debatten um sie wieder hoch, die es schon zu Lebzeiten der Frau gegeben habe. »Das tut mir leid«, sagt Leo. »Das wird ihr nicht gerecht.« Was die Kontakte zu Rechtsextremisten betreffe: Gneist habe sich da leider an die gewandt, die ihr noch zuhören wollten. Auf polarisierende Äußerungen habe der damalige Stiftungsdirektor Günter Morsch scharf geantwortet. Auf die »kleine Sekretärin Gneist« hätte der intellektuell weit überlegene Professor Morsch doch einmal zugehen sollen, denkt Leo. Aber das habe er bedauerlicherweise nie getan. Stattdessen gab es einen Rechtsstreit, weil Gneist die historisch verbürgte Existenz einer Gaskammer im KZ Sachsenhausen angezweifelt haben soll.

»Wir dürfen der Versuchung nicht erliegen, ein Leid gegen das andere aufzuwiegen«, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete Ariane Fäscher. Sie hielte es für richtig, wenn es eine Gisela-Gneist-Straße nicht ausgerechnet im Aderluch geben würde - weil sich da einst ein KZ-Außenkommando befunden hat.

Doch das wäre Anke Domscheit-Berg zu wenig, wenn nur eine andere Adresse gewählt würde. Sie kann sich nicht vorstellen, dass es nicht einen Speziallagerhäftling gebe, der die Gefühle der KZ-Opfer nicht derart verletzt, wie es bei Gisela Gneist der Fall sei. Die Politikerin hat zu diesem Thema eine persönliche Verbindung. »Mein Onkel war bei der Waffen-SS und mindestens einige Wochen - ich weiß nicht, wie lange - als Wachmann im KZ Sachsenhausen, bevor er an die Front geschickt wurde«, berichtet sie. »Da ist er mit 19 Jahren gefallen.«

Damit nicht genug. Der Großvater von Anke Domscheit-Berg war Häftling im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen. Selbst hat sie ihn dazu nicht befragen können. Er ist bereits 1961 gestorben. Ihre Mutter lebt inzwischen auch nicht mehr. Die habe ihr früher gesagt, der Großvater sei »unschuldig« im Lager gewesen - eine Einschätzung, über die Anke Domscheit-Berg heute sagt: »Ich glaube das nicht mehr.« Denn sie hat seinen Namen in einem Personenverzeichnis als Gauleiter entdeckt, und in einer rumänischen Studie taucht er als Nazi-Stimme aus Bessarabien auf. »Ich weiß nicht, was da sonst noch alles war oder ob die Erwähnung als Gauleiter in Polizeiakten ausreichte, um ins Speziallager zu kommen.« Erfahren hat Domscheit-Berg außerdem, dass der Großvater mal für ein Wochenende eine Art Ausgang bekam von einem sowjetischen Offizier, der ihn inständig bat, keine Schwierigkeiten zu machen und anschließend wiederzukommen. Schwarz-Weiß-Denken fällt ihr deshalb schwer.

Das Schicksal des Großvaters passt dazu, dass die im Speziallager inhaftierten Nazis in den 90er Jahren fast alle längst tot waren. Als Zeitzeugen meldeten sich damals wie heute Menschen zu Wort, die als Jugendliche dort interniert waren und im Grunde als »unschuldige Kinder« gelten können. Einzelne haben berichtet, welche Kriegsverbrecher sie im Lager getroffen haben, andere interessierte das nicht und sie forderten ein mit den KZ-Häftlingen gleichberechtigtes Erinnern. Das hat die KZ-Überlebenden schockiert und verletzt. Historikerin Leo erinnert sich, mal von französischen KZ-Überlebenden »auf ein Hotelzimmer zitiert« worden zu sein, die sich bei ihr beschwerten, dass in der KZ-Gedenkstätte nun die Nazis geehrt werden sollten, die im Speziallager saßen. Denen habe sie erklären müssen, dass sich unter den Speziallagerhäftlingen auch ganz junge Menschen befanden, die nichts verbrochen hatten.

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