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Höheres Sterberisiko bei Ausländern
Mortalitätsraten legen nahe, dass Menschen ohne deutschen Pass überproportional von Corona betroffen sind
In den USA sterben Afroamerikaner*innen, Latinos und Indigene Menschen rund doppelt so häufig an den Folgen des Coronavirus im Vergleich zu weißen. Für Deutschland gibt es derartige Zahlen nicht, Krankenhausaufenthalte und Todeszahlen aufgeschlüsselt nach rassistischer Diskriminierung oder Ethnizität gibt es nicht. Eine Expertise des »Deutschen Mediendienstes Integration« will zeigen, dass es zumindest gute Gründe gibt, an dieser Stelle genauer hinzuschauen. Forscher*innen haben sich ersatzweise die Sterbefallzahlen nach Staatsangehörigkeit angeschaut. Und dort zeigt sich: Ausländische Staatsangehörige sind in der Corona-Pandemie häufiger gestorben als deutsche.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die Aussagen dieser Statistik sind vorsichtig zu bewerten, denn diese Gruppe ist heterogen, darunter fallen beispielsweise geduldete Asylsuchende mit unsicherer Bleibeperspektive genauso wie etwa eine Schwedin, die im Homeoffice arbeitet und keine rassistische Diskriminierung erfährt. Zugleich werden Deutsche, die Rassismus erfahren, nicht berücksichtigt. Trotzdem gibt es einen eindeutigen Unterschied in der Mortalität. Besonders deutlich wird der, wenn man die Todesfälle der Menschen im oberen Erwerbsalter vergleicht: Bei den 45- bis 64-Jährigen stieg die Anzahl der Todesfälle 2020 bei Menschen mit deutschem Pass um 1,1 Prozent, bei jenen ohne deutschen Pass um 9 Prozent.
»Dieser Unterschied ist frappierend«, sagt Linda Supik, Co-Autorin des Papiers, zu »nd«. Es sei bekannt, dass die soziale Herkunft einen Effekt auf die Ausbreitung von Infektionskrankheiten habe. Dass dies hier so deutlich zu sehen sei, habe sie überrascht. Erklären lässt sich das vermutlich auch damit, dass Migrant*innen überproportional häufig in Berufsgruppen wie in der Altenpflege, dem Gesundheitswesen, der Postzustellung und im Verkauf von Lebensmitteln arbeiten; Berufe mit einem besonders hohen Ansteckungsrisiko.
»Die vorliegenden Daten lassen keine direkten Rückschlüsse auf Rassismus zu, weisen aber darauf hin, wo man stärker hinschauen muss«, sagt Co-Autor Tino Plümecke zu »nd«. Ausländische Staatsangehörige, die 2020 etwa 12 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ausmachten, sind im Durchschnitt jünger als deutsche. Und Covid-19 führt vor allem bei älteren Menschen zu höheren Todesraten. »Wenn viele ältere Menschen sterben, wäre also zu erwarten, dass der Anteil ausländischer Staatsangehöriger an allen Todesfällen sinkt.
Doch das Gegenteil ist der Fall«, heißt es in dem Papier. In den bisher vorliegenden acht Monaten des Jahres 2021 – dem Zeitraum der zweiten und dritten Coronawelle – sei der Anteil ausländischer Staatsangehöriger an der Gesamtzahl der Sterbefälle mit 0,4 Prozentpunkten auf 4,2 Prozent doppelt so stark angestiegen wie in den Vorjahren. Das deute darauf hin, dass die beiden Bevölkerungsteile sehr ungleich von Covid-19 betroffen seien, sagt Plümecke. Deutlicher wird der Unterschied, schaut man sich die Gruppen getrennt an: Die Anzahl der Gestorbenen unter ausländischen Staatsangehörigen stieg 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 10 Prozent an, bei deutschen um 4,7 Prozent. Ähnliche Tendenzen lassen sich laut den Autor*innen in der Schweiz beobachten.
»Das sind besorgniserregende Unterschiede im Sterberisiko. Die Gesundheitspolitik muss das stärker in den Blick nehmen«, ist Supik überzeugt. Epidemiolog*innen hätten teils vermieden, Unterschiede zwischen Migrant*innen und Deutschen zu erwähnen, aus Angst, rassistisch zu wirken. Es sei jedoch wichtig, diese Unterschiede und ihre Ursachen zu benennen. Diese seien nicht bei der Staatsangehörigkeit oder gar kulturellen Unterschieden zu suchen, sondern ganz konkret bei sozialen Faktoren wie prekären Lebensbedingungen. »Was wir sehen, ist sicherlich zu großen Teilen ein Effekt von Klasse und sozialer Herkunft. Aber rassistische Diskriminierung spielt auch bei Klasse hinein, etwa bei der Wohnungssuche«, so die Diskriminierungsforscherin. Ihre Vermutung ist, dass der Effekt dieser Faktoren auf die Sterblichkeit bei Deutschen mit Migrationshintergrund ähnlich sei wie bei Ausländer*innen, wenn auch möglicherweise schwächer ausgeprägt.
Die Gesundheitsversorgung spielte auch beim kürzlich veröffentlichten Afrozensus eine große Rolle. Diese Befragung lässt Rückschlüsse darauf zu, dass rassistisch diskriminierte Menschen in Deutschland nicht nur wegen prekärer Lebensumstände stärker von Infektionskrankheiten betroffen sind. Über 64 Prozent der Befragten gaben an, Diskriminierung im Bereich Gesundheit und Pflege erfahren zu haben, bei den muslimischen Befragten waren es deutlich mehr. Die Folge von erlebten Diskriminierungen sei, dass rassistisch diskriminierte Personen eher durch Versorgungsnetze fallen oder Behandlungen abbrächen, heißt es im Bericht zum Afrozensus. Medizinisches Personal erklärte dort, dass die Sprache oftmals eine große Barriere sei, die zu Diskriminierung in der Kommunikation und Interaktion im Gesundheitswesen führe.
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Beide Studien legen nahe, dass rassistische Strukturen auch in Deutschland dazu führen, dass rassistisch diskriminierte Menschen Nachteile in der Gesundheitsversorgung erleben und härter von Infektionskrankheiten getroffen werden. Um so konkrete Aussagen zu treffen wie in den USA, bräuchte es eine systematische Datenerhebung. Wie das funktionieren könnte? Als positives Beispiel führt Supik hierfür das Berliner Partizipationsgesetz an, das als Kategorien neben Menschen mit Migrationshintergrund auch solche in den Blick nimmt, die rassistisch diskriminiert werden oder denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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