Malaise in Frankreichs Justiz

Landesweite Proteste wegen Missständen im Rechtswesen - auch Beamte beteiligen sich

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

In ganz Frankreich finden gegenwärtig Protestaktionen gegen die Misere der Justiz statt. Dazu haben in seltener Übereinstimmung 17 Gewerkschaften und Organisationen aufgerufen. In der vergangenen Woche gab es sogar einen landesweiten eintägigen Streik, an dem sich 80 Prozent der Gerichte und - trotz des gesetzlichen Streikverbots für Beamte - auch viele Richter und Staatsanwälte beteiligt haben.

Gemeinsam mit den Justizangestellten und auch den mittelbar betroffenen Anwälten fordern sie vor allem mehr Geld und Personal. Der Mangel in allen Bereichen der Justiz sei »eines großen demokratischen Staates unwürdig«, heißt es in einem in der Zeitung »Le Monde« veröffentlichten Offenen Brief an den Justizminister Eric Dupond-Moretti. Bis zur Berufung in die Regierung war dieser selbst Anwalt und kennt die Lage somit aus eigener Erfahrung. Diesen Appell haben mehr als 7500 Mitarbeiter der Justiz unterschrieben, davon 5500 der landesweit 9000 Richter und Staatsanwälte, sowie mehr als 2000 Gerichtsbeamte. »Wir wollen nicht mehr diese Justiz, die nicht zuhört und die nur in Zahlen denkt, Zeitabläufe mit der Stoppuhr misst und Vorgänge verbucht«, heißt es weiter in dem Text. Die Proteste haben sogar den Kassationsgerichtshof erfasst, die höchste juristische Instanz im Land. In einem Kommuniqué beklagen dessen Richter, die Justiz sei »ausgeblutet und nicht mehr in der Lage, umfassend ihrer Rolle im Interesse der Bürger gerecht zu werden«.

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Um ihren Klagen und Forderungen Nachdruck zu verleihen, demonstrierten mehrere tausend Juristen in schwarzen Roben vor dem Justizministerium am Pariser Vendôme-Platz und vor dem Finanzministerium in Paris-Bercy. Yvon Ollivier, Vize-Staatsanwalt in Nantes, fasste ihre Beschwerden in den Worten zusammen: »Was wir heute erleben, ist Justiz im Akkord, wie am Fließband im Schlachthaus. Wir arbeiten immer schneller, aber hinter jeder Akte stehen Menschen, die Anrecht auf ein gerechtes Verfahren und Urteil haben.« Céline, eine Gerichtsprotokollantin aus Nizza, erzählt aus ihrem Arbeitsalltag: »Gestern hat ein Kollege von mir bis 2.30 Uhr gearbeitet und am nächsten Morgen war er um 8.30 Uhr wieder an seinem Arbeitsplatz.« Caroline Barthel, eine andere Gerichtsprotokollantin, berichtet: »Bei uns in Straßburg sind 74 von 270 Stellen nicht besetzt, so dass die anderen mit Arbeit überhäuft werden.« Nicht selten führt der ständige Druck der schneller nachwachsenden als erledigten Arbeit zu menschlichen Dramen. So hat sich im vergangenen August in Lille die Richterin Charlotte B. das Leben genommen. »Bei uns haben sich so viele unerledigte Fälle angehäuft, dass wir neue Verfahren nicht vor März 2023 einplanen können«, sagt Anne Wyon, die Präsidentin des Appellationsgerichtshofs von Lyon. Oft reichten die Regale für die Akten mit den unerledigten Fällen nicht mehr aus, so dass sich die Ordner bis auf den Korridor stapeln. »Nicht selten müssen Verhandlungen bei der Eröffnung gleich wieder vertagt werden, weil nicht die vorgeschriebene Zahl von Richtern oder Protokollanten anwesend ist«, schildert die Staatsanwältin Laetitia Francart die Lage an ihrem Gericht in Villefranche-sur-Saône.

Besonders dramatisch ist die Personallage an den Familiengerichten, wo nicht selten ein Richter für bis zu 300 Kinder zuständig ist, die in Pflegefamilien gegeben werden mussten, oder für bis zu 1000 unter Kuratel gestellte Erwachsene. »Hier gibt es immer wieder Fälle von schlechter Behandlung oder von Betrug zum Schaden der Unmündigen, doch es fehlt an Personal, um das zu kontrollieren«, sagt Alain P., ein Familienrichter aus Aix-en-Provence.

Natacha Aubeneau, die Nationalsekretärin der Richtergewerkschaft USM, fasst zusammen: »Seit Jahren beklagen wir die Arbeitsüberlastung an den Gerichten, die dazu führt, dass sie ihre Arbeit nicht korrekt machen können. Heute ist ein Punkt erreicht, wo wir sagen müssen: So kann und darf es nicht weitergehen. Hier muss die Regierung umgehend den Kurs ändern.«

Justizminister Eric Dupond-Moretti versuchte, mit einer eilig einberufenen Pressekonferenz gegenzusteuern. Er schilderte, in welch beklagenswerten Zustand die jetzige Regierung die Justiz bei ihrem Amtsantritt 2017 vorgefunden hat und erklärte, seitdem sei die Zahl der Richter um acht Prozent und das Budget der Justiz um 18 Prozent aufgestockt worden. Dabei ließ er allerdings unerwähnt, dass der Budgetanteil der Justiz pro Kopf der Bevölkerung immer noch weit unter dem europäischen Durchschnitt liegt und nur halb so groß ist wie beispielsweise in Deutschland, und dass die zusätzlichen Mittel fast ausschließlich in den Bau neuer Gefängnisse investiert wurden.

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