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Die Friedenskicker von Freetown

Vor knapp 20 Jahren endete im westafrikanischen Sierra Leone ein zehnjähriger Bürgerkrieg. Auf den Trümmern entstand der FC Johansen, der Jugendlichen neue Perspektiven geben sollte.

  • Felix Lill, Freetown
  • Lesedauer: 7 Min.
Trainer Abdul Karim Fofanah und Zeugwart Abu Bakarr Bah (r.) bei der Halbzeitansprache
Trainer Abdul Karim Fofanah und Zeugwart Abu Bakarr Bah (r.) bei der Halbzeitansprache

Heute kämpfen wir bis zum letzten Mann!«, brüllt ein Fan kurz vor Spielbeginn über den Platz. An die kleine Tribüne, auf der er steht, hat einer seiner Kollegen ein Banner gehängt, auf dem der Spruch prangt: »Chasing the Dream« - den Traum jagen. »Keine Kapitulation!«, ruft ein anderer. Und es wird gelacht. Krieg und Spaß, erzählen sich Eltern junger Kinder oft, können nah beieinander liegen. Auch auf den Fußballplätzen von Freetown scheint diese Weisheit angekommen zu sein.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Ein Sonntag Ende Oktober in der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Sierra Leone. »Leute! Denkt dran, wo ihr herkommt!«, schreit der Trainer in den Kreis, den seine Spieler und Betreuer kurz vor Anpfiff gebildet haben. »Johansen!«, brüllen die mit einer Stimme zurück. Direkt vor der kleinen Tribüne ist vom eben noch röhrenden Straßenlärm hinter der flachen Betonmauer jetzt kaum etwas zu hören. Ein paar Zuschauer beginnen, Stimmung zu machen. Immerhin geht es gegen Central Parade - einen Anwärter auf die Meisterschaft.

»Das Spiel heute ist extrem wichtig, um in der Tabelle oben dranzubleiben«, erklärt Vereinssprecher Kemoh Sesay am Spielfeldrand und muss gegen die lauten Anweisungen des Trainers ankämpfen, der von der ersten Minute an unter Strom steht. »Wir wollen im kontinentalen Geschäft mitspielen, damit unsere Einnahmen steigen und wir mehr investieren können.« Derzeit reicht es nur für Platz neun, aber wegen diverser Spielverschiebungen inmitten der Pandemie ist die Tabelle wenig aussagekräftig. Der Klub hat es schon einmal auf die internationalen Ränge geschafft. »Wir müssen die Geschichte des FC Johansen weitererzählen. In ganz Afrika!«, sagt Sesay .

Die Geschichte hinter dem Klub, für den er arbeitet, ist tatsächlich eine besondere. Sie beginnt mit Zerstörung und Orientierungslosigkeit, ist aber längst bei beachtlichen Erfolgen und großen Hoffnungen angekommen. Und wer weiß, wohin sie noch führt. Wenn am 9. Januar in Kamerun der Africa Cup of Nations beginnt, sollen auch Spieler des FC Johansen dabei sein. Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert hat sich Sierra Leone für das Kontinentalturnier qualifiziert. Ohne den FC Johansen wäre das womöglich nicht gelungen.

Als im Januar 2002 ein elfjähriger Bürgerkrieg endete, hatten 70 000 Menschen ihr Leben verloren. Aus dem benachbarten Liberia war ein Konflikt eingeschleppt worden, der sich schnell ausgebreitet hatte. Eine ideologische Grundlage fehlte den Kämpfen, aber wegen der Diamantenvorkommen wurden sie jahrelang weiter befeuert. Rebellen forderten die Regierung und weitere Gruppierungen heraus. Schnell war in dem Konflikt jedes Maß verloren gegangen.

Selbst Kinder wurden bewaffnet und nahmen an Straßenkämpfen teil. 2,6 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause, noch mehr wurden verwundet. Durch den Eingriff internationaler Truppen kam Frieden zustande, aber viele Probleme waren damit noch nicht aus der Welt. Auch weil in diesen Jahren kaum ein Kind regelmäßig zur Schule gegangen war, hinkt Sierra Leone in seinem Entwicklungsniveau bis heute den Möglichkeiten hinterher.

Aber es gab Lichtblicke. »Kurz nach dem Krieg war ich ein Kind, wir haben uns jeden Tag auf der Straße getroffen und mit einem Ball aus Fetzen gespielt«, erzählt Abu Bakarr Bah, der Zeugwart des Klubs. »Im Krieg hatten viele von uns Eltern oder Geschwister verloren. Einige waren auch auf eine Weise in den Krieg involviert.« Statt weiter ins Detail zu gehen, erzählt der 34-jährige die Geschichte, die man aus so vielen Armutsvierteln der Welt hört: Fußball war das Spiel, das Verlierer ablenkte, für Freude sorgte, Sieger hervorbrachte.

Bald hatten Abu Bakarr Bah und seine Freunde eine regelmäßige Zuschauerin. »Immer wenn ihr Auto näherkam, wussten wir schon, dass sie uns was mitbrachte. An einem Tag waren es Getränke, irgendwann ein Ball und richtige Fußballschuhe. Und dann ging alles los.« Isha Johansen, eine wohlhabende Frau, gründete den FC Johansen im Jahr 2004. Zuerst handelte es sich nur um ein Jugendprojekt, damit sich die Kinder dem Fußball widmen und zur Schule gehen konnten. Aber mit den Jahren wuchsen auch die Ambitionen. Im Nachwuchsbereich gewannen die Spieler des FC Johansen internationale Turniere, und als der erste Jahrgang das Erwachsenenalter erreichte, meldete die Mäzenin ihren Klub im Männerbereich an. Bald gelang der Aufstieg in die nationale Premier League, einmal sogar der Pokalsieg. »Bis 2010 hab ich noch für den Klub gespielt«, sagt Abu Bakarr Bah, fasst sich an den runden Bauch und muss lachen. »Heute könnte ich nicht mehr mithalten.«

Mit dem Aufstieg des FC Johansen wurde auch dessen Namensgeberin berühmt. »Madame Isha«, wie sie hier am Platz genannt wird, stieg neun Jahre später zur ersten weiblichen Präsidentin des nationalen Fußballverbands auf. Beobachter berichten seither von einer Professionalisierung der Jungendförderung und der Stabilisierung des Profigeschäfts. Kritiker haben ihr auch schon Korruption vorgeworfen. Für ein Interview stand sie nicht zur Verfügung. Mittlerweile ist Isha Johansen Ratsmitglied der FIFA, wo man den bilderbuchartigen Werdegang der 56-Jährigen gerne hervorhebt.

In mehreren Ländern der Welt gibt es ähnliche Beispiele für die Kraft des Fußballs, durch den sich mit gutem Willen manchmal viel mehr erreichen lässt als man anfangs für möglich hielt. In der bolivianischen Stadt Santa Cruz gründete der Idealist Rolando Aguilera einst die Akademie Tahuichi, um Kinder vom Drogenkonsum abzubringen und zum Sport zu animieren. Heute ist Tahuichi ein Sportinternat, das das Rückgrat der bolivianischen Nachwuchsförderung bildet. Seit 2003 findet alle zwei Jahre die WM der Obdachlosen statt. Anfangs sollte sie auf das Problem von Menschen auf der Straße hinweisen. Mittlerweile ist das Ereignis expandiert und wird mit Millionen an Sponsorengeld gefördert.

Der FC Johansen hat dennoch eine besondere Stellung. »Es ist schon toll, was dieser Klub leistet«, sagt Augustus Lawson. Der schlanke 70-jährige Mann steht unaufgeregt am Rand, zwischen den Fans beider Seiten, und sieht sich das Spiel an. Früher war Lawson Nationalspieler von Sierra Leone. »Als ich jung war, waren wir mal eine starke Fußballnation. Der Krieg hat so viel kaputtgemacht. Die Kinder gingen ja alle nicht mehr zur Schule. Natürlich hat man auch nicht mehr trainiert.« Aber jetzt werde es wieder besser. Die Qualifikation der Nationalmannschaft für den Afrika-Cup sei der Beleg.

Auch in diesem Acht-Millionen-Land, das nach Einschätzung der Vereinten Nationen zu den ärmsten der Welt gehört, ist Fußball der beliebteste Sport. Grundlegende Strukturen fehlen dennoch. Weil es kein vernünftiges Stadion gibt, mussten die zwei Erstligisten Central Parade und FC Johansen an diesem Sonntag auf einen Platz ausweichen, der so holprig ist, dass kaum ein Flachpass sauber gespielt werden kann. Nur ein paar Hundert Besucher passen auf die Anlage.

Auf den Toiletten fehlt fließendes Wasser, beim Eingang an der Straße lässt sich schwer kontrollieren, ob der Eintrittspreis von 10 000 Leonen (rund 80 Cent) auch wirklich bezahlt wurde. »Normalerweise würden wir im Nationalstadion vor bis zu 50 000 Zuschauern spielen«, versichert Kemoh Sesay noch vor Anpfiff. Tatsächlich zählt der FC Johansen, der als Symbol für die Überwindung des Bürgerkriegs gilt, zu den beliebtesten Klubs des Landes. Denn ob man ihn nun sportlich unterstützt oder nicht: Auf eine gewisse Weise ist so gut wie jeder ein Fan.

Man bemerkt es an der Friedfertigkeit, mit der die Menschen zwei Jahrzehnte nach dem verheerenden Konflikt, den die meisten hier noch erlebt haben, miteinander umgehen. »Der Krieg ist Vergangenheit, daran denkt niemand mehr. Das haben wir hinter uns«, sagt Abdul Karim Fofanah, der unüberhörbar laute Trainer, mit heiserer Stimme nach dem Abpfiff. »Ich habe damals bei der Civil Defence Force meine Nachbarschaft beschützt. Aber wenn ich heute jemanden sehe, der damals gegen meine Gegend gekämpft hat, spielt das keine Rolle mehr. Dinge wie Fußball helfen uns dabei, das alles zu vergessen und nach vorne zu schauen.«

An diesem Sonntag sieht es für den FC Johansen nicht gut aus. Dank eines Kontertors gewinnen die Gäste von Central Parade mit 1:0. Ein herber Rückschlag im Kampf um die oberen Tabellenplätze. »Wir haben heute nicht ins Spiel gefunden. Wir waren nicht gut organisiert.«, klagt Mannschaftskapitän Abdul Kamara. »Aber immerhin haben ein paar unserer Nachwuchsspieler zugeschaut. Ich hoffe, die haben gesehen, woran es uns gemangelt hat.«

Beim FC Johansen denke man nicht nur von Spiel zu Spiel, sondern langfristig, sagt Kamara. Wenn er, der wie viele andere hier als Kind in den Krieg verwickelt war, seine Karriere beendet, will er Trainer werden. »Ich will den Nachwuchs ausbilden. Das ist nämlich auch gute Entwicklungsarbeit für alle.« Wer zusammen oder gegeneinander spiele, glaubt Abdul Kamara, der werde sich später nicht bekriegen: »Beim FC Johansen wissen wir dies ganz genau.«

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