Corona-Politik gibt Anlass zum Protest

Brandenburgs Linke-Landesvize Günther ist unzufrieden mit der sozialen Schieflage bei den Hilfen

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

Könnten Sie sich vorstellen, bei einer Demonstration gegen die aktuelle Corona-Politik mitzulaufen?

Es ist meine Überzeugung: Im Moment müsste man gegen sehr viele Dinge demonstrieren, was Die Linke zum Teil auch macht. Ich erinnere an unsere Proteste gegen die Abschaffung der Schulgesundheitsfachkräfte in Brandenburg. Das hat mit der Corona-Politik zu tun. Gerade jetzt in der Pandemie wären solche Fachkräfte besonders nützlich. Aber angeblich fehlt dem Land das Geld, um die Stellen zu finanzieren.

Interview mit Martin Günther

Martin Günther ist Jahrgang 1982 und hat Volkswirtschaft studiert. Er arbeitet im Berliner Büro des Bundestagsabgeordneten Bernd Riexinger (Linke) und ist selbst seit 2020 stellvertretender Landesvorsitzender der Brandenburger Linkspartei. Dem Landesvorstand gehört er bereits seit 2014 an. Günther lebt mit seiner Familie in Bernau bei Berlin und sitzt dort auch im kollektiven Stadtvorstand seiner Partei. Eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden haben die Genossen dort nicht bestimmt. Martin Günther interessiert sich für wirtschaftliche und gewerkschaftliche Fragen und äußert sich als stellvertretender Landesvorsitzender immer wieder zu Niedrigverdienern, Mindestlöhnen und tariflicher Bezahlung. Über die soziale Dimension der herrschenden Corona-Politik sprach mit ihm nd-Redakteur Andreas Fritsche.

Haben Sie denn in den letzten Tagen persönlich demonstriert?

Nein. Ich bin in dieser Frage gerade unsicher, ob ich wirklich für Massenaktionen eintreten kann, wenn eine Ansteckungsgefahr besteht.

Aber ist es an frischer Luft nicht relativ ungefährlich?

Wenn ich mir sicher sein kann, dass die anderen Demonstranten Masken tragen und Abstand halten, dann ja. Solche Versammlungen gibt es, und das finde ich auch völlig in Ordnung. Bei den sogenannten Abendspaziergängen gegen die Corona-Maßnahmen, die überall in Brandenburg und auch in meiner Heimatstadt Bernau stattfinden, ist das aber oft nicht der Fall.

Würden Sie an so einem Spaziergang teilnehmen, wenn dort die Regeln beachtet werden?

Auch dann hätte ich Probleme damit, weil ich bei den sogenannten Spaziergängen nicht weiß, mit wem ich mich da plötzlich auf der Straße befinde. In Bernau sind Mitglieder der AfD, der NPD und der Partei »Der Dritte Weg« bei diesen Spaziergängen gesehen worden. Mit denen will ich selbstverständlich nichts zu tun haben.

Da laufen in Brandenburg aber neben den genannten Neonazis auch andere Menschen, sogar Linke, mit, die mit den derzeitigen Corona-Maßnahmen nicht einverstanden sind.

Bis zu einem gewissen Grad kann ich diese Menschen verstehen. Natürlich ist das Coronavirus gefährlich und wir müssen uns in Acht nehmen, um das Gesundheitswesen nicht zu überlasten. Dennoch machen Bund und Land eine Politik, bei der man teilweise nur den Kopf schütteln kann. Es passieren Absurditäten ohne Ende.

Was zum Beispiel?

Ich verstehe nicht, warum nicht an die Krankenhausfinanzierung herangegangen wird, warum die Kapazitäten im Gesundheitswesen nicht ausgebaut werden. Es gibt jetzt wohl kaum noch Kliniken, die nicht in finanzieller Schieflage sind. Wenn eine Lehre aus der Pandemie zu ziehen war, dann doch wohl diese.

Hätte Die Linke, wenn sie regiert hätte, wirklich alles besser gemacht?

Das will ich nicht behaupten. Die Politik musste den Umgang mit der Pandemie erst lernen. Da hätten wir genauso Fehler machen können. Aber einige Dinge, und da meine ich insbesondere die soziale Schieflage bei den Hilfsmaßnahmen, die sind so, weil nicht wir entscheiden, sondern andere Parteien. Dass zum Beispiel Empfänger von Arbeitslosengeld II und Grundsicherung nicht mehr Geld bekommen, dass sie nicht einmal eine Sonderzahlung erhielten, obwohl die Preise für Lebensmittel gestiegen sind und sie sich Masken kaufen müssen, dies ist politische Absicht beziehungsweise setzen die anderen Parteien da die falschen Prioritäten. Das hätten wir anders gemacht.

Ist das der einzige Punkt, an dem sich die Corona-Politik der Linken von der Politik der anderen Parteien unterscheidet?

Nein, da gibt es mehrere Punkte. Meiner Ansicht nach müssten wir auch noch einmal über die Eigentumsverhältnisse bei den Krankenhäusern reden, damit der Staat die Steuerungsmöglichkeiten zurückerhält, die er durch zahlreiche Privatisierungen verloren hat. Der Vorstoß unserer Landtagsfraktion, eine Landeskrankenhausgesellschaft zu gründen und Kliniken schrittweise zurück in die öffentlich Hand zu nehmen, zielt in die richtige Richtung. Außerdem frage ich mich, warum Bundeswehrsoldaten zur Kontaktnachverfolgung in die Gesundheitsämter geschickt werden müssen. Das ist doch ein Zeichen dafür, dass wir in sensiblen Bereichen nicht genug Personal für einen Ernstfall vorhalten. Und die Schwächen unseres Bildungswesens sind in der Pandemie auch noch einmal deutlicher geworden.

Inwiefern?

Ich muss betonen: Hut ab, was die Lehrer in den vergangenen knapp zwei Jahren geleistet haben. Aber es fehlen ihnen die technischen Mittel für einen ordentlichen Distanzunterricht. Die Computertechnik könnten sie auch für den normalen Unterricht gebrauchen. Außerdem fehlt es an Personal, und nicht wenige Schulgebäude sind in einem schlechten Zustand. Man glaubt es kaum, wenn man hört, dass in Klassenzimmern nicht gelüftet werden kann, weil sich die defekten Fenster nicht mehr öffnen lassen.

Die Linke hat mit ihrer Corona-Politik allerdings bei der Bundestagswahl im September nicht gerade gepunktet. Wähler haben sich enttäuscht von den Sozialisten abgewandt.

Die Corona-Proteste sind eine Herausforderung für jede Partei, insbesondere auch für uns. Bei den Spaziergängen mischt sich mit den Neonazis auch Antikapitalismus, der sich in der Ablehnung der Impfstoffe von großen Pharmakonzernen zeigt. Dabei ist eine gesunde Skepsis gegen die Pharmaindustrie nicht ganz verkehrt, solange sie nicht zur Wissenschaftsfeindlichkeit mutiert. Es äußert sich bei diesen Spaziergängen auch Skepsis gegen den Staat und die Medien. Das ist nicht völlig unberechtigt. Dazu kommen dann Liberalismus, Spiritualität, Naturverbundenheit - eine ganz bunte Mischung, und am Ende läuft auch noch der Ladeninhaber mit, der Angst um seine Existenz hat. Es ist nicht einfach, mit dieser Gemengelage umzugehen.

Und wie sollte Die Linke damit umgehen?

Wie ich bereits gesagt habe: Wir müssen uns um die sozialen Dimensionen der Pandemie kümmern. Davon abgesehen wäre es aber ein großer Fehler, uns nur auf die Corona-Maßnahmen zu konzentrieren. Nebenher steigen doch weiter die Mieten in den Metropolen, wovon viele Brandenburger im Berliner Umland betroffen sind. Die Verkehrswende ist auch ein Thema, an dem wir dranbleiben müssen. Ich habe das Gefühl, dass im Schatten der Pandemiebekämpfung solche Probleme vernachlässigt werden. Dagegen müssen wir uns wehren.

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