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Zauber und Schrecken der Leere
Corona statt Karneval: »Moleküle der Erinnerung - Venedig, wie es niemand kennt« von Andrea Segre
Von Nietzsche gibt es den Satz, er wolle in Venedig »nichts sehen als zufällig«, was bedeutet, nicht auf sogenannte Sehenswürdigkeiten zu starren, nicht vom Baedeker geführt zu werden, sondern alles Wesentliche selbst zu entdecken. Diese Äußerung hätte Andrea Segre zu denken geben sollen, als er am 20. Februar 2020 nach Venedig kam, um einen Dokumentarfilm über die beiden größten Gefährdungen der Stadt zu drehen: den Tourismus und das Hochwasser. Ein klares Ziel, das nach einer ebenso klaren Recherche verlangte. Ursachen benennen für unausweichliche Folgen.
Doch dann kam das Coronavirus, der Karneval wurde abgebrochen, die Stadt leerte sich. Es folgte der Lockdown, der in Italien sehr viel strenger war als bei uns. Andrea Segre saß fest in Venedig, und plötzlich war ihm nichts mehr klar. Die Erinnerungen gerieten so unkontrolliert in Bewegung wie winzige Moleküle. Venedig war die Geburtsstadt seines Vaters Ulderico, eines Wissenschaftlers, der die Bewegung genau solcher Moleküle erforschte. Er war zu dieser Zeit schon an einem Herzleiden gestorben, in dessen Schatten er dauerhaft gelebt hatte. Einmal habe sein Vater ihn als Kind an der Brust horchen lassen: Die starken Nebengeräusche des Herzens prägten sich ein.
Der Vater sei sehr schweigsam gewesen, genau wie die Großmutter. Immer habe er das Gefühl gehabt, dass sie etwas vor ihm verschweigen würden. Und so begibt er sich, mitten im erzwungenen Stillstand, auf eine Reise ins verborgene Venedig. Die unausgesprochenen Erinnerungen seines Vaters begleiten ihn. Das ist nicht spektakulär, es geht hier nicht um vorsätzlich Verschwiegenes, sondern um das Schweigen überhaupt - jenes zwischen Vater und Sohn. Der filmische Sog, der von »Moleküle der Erinnerung« ausgeht, ist enorm.
Plötzlich wird diese Dokumentation, die sie anfangs noch sein will, zu einem filmischen Essay, der mit lauter unfertigen Teilen hantiert. Das sind vor allem kurze Filmsequenzen aus dem Venedig der 60er Jahre, die der Vater in seiner Jugend auf Acht-Millimeter-Schmalfilm gedreht hatte. Was er dort sieht, verblüfft den Sohn. So kannte er weder seinen Vater noch Venedig. Genau diese Irritation wird zum Ausgangspunkt einer Erkundung in der menschenleeren Stadt.
Er habe nie wirklich gewusst, ob er nun zu Venedig gehöre oder nicht, sagt der Regisseur. Die Präsenz seines Vaters hier in Venedig dagegen, festgehalten in einigen Filmsequenzen, ist ihm jedoch eine Tatsache. Ein Sohn sucht seinen abwesenden Vater - und findet einen Menschen, der ihm gänzlich unvertraut ist, ebenso wie diese Stadt sich ihm immer aufs Neue entzieht. Traum und Albtraum vermischen sich, zumal die sphärischen Klänge von Teho Teardo pure Nebelmusik sind.
Es ist ein ausgesprochen existenzialistischer Film geworden, einer dunklen Todesbarke gleich, die durch stille Kanäle gleitet. Ein einziger unheimlicher Bilderstrom. Die Lagune ist ein physikalisch beschreibbares flaches Gewässer und doch auch ein ewiges Mysterium. Mal glänzt sie lichtdurchflutet voller Klarheit, mal hat sie etwas von einem trüben undurchdringlichen Orkus, der nur dazu da zu sein scheint, alles zu verschlucken, was sich auf der Wasseroberfläche zu bewegen wagt.
In den ersten Tagen seines Drehs kann Andrea Segre noch Menschen treffen, die seit Langem in Venedig leben - aber die Stadt so auch noch nie gesehen haben. »Wie vor 40 Jahren«, sagt jemand und weist auf den leeren Giudecca-Kanal, »nein, auch damals nicht«, korrigiert er sich. »Wenn es nur mehr Venezianer gäbe, diesen herrlichen Ort zurückzuholen«, klagt Elena, eine junge Ruderin, die das Wasser noch nie so ruhig und klar erlebt hat. Heimisch fühlt sie sich in Venedig nur, wenn die historische Regatta stattfindet, und das ist einmal im Jahr.
Als Jean-Paul Sartre Anfang der 50er Jahre hierherkam, bemerkte er sofort die Kehrseite der gefährlichen Lagunenschönheit. Wie giftig dieses Wasser sein kann! In seinem grandiosen Werk »Königin Albemarle oder Der letzte Tourist« bekennt er, dass er Venedig liebe, aber ohne jede Sympathie. Diese Stadt wird ihm zu einem einzigen psychedelischen Trip: »Wenn man in Venedig durch die feuchten Spalten läuft, fühlt man, wie man eine Kellerassel wird.«
Vor allem ist Venedig heute so leer, weil es nur noch etwa zehn Prozent der Einwohner zu Zeiten Sartres hat - im Zentrum leben knapp 50 000. Die sonst so massenhaft strömenden Touristen verbergen die Tatsache, dass das Centro Storico Venedigs eine Geisterstadt geworden ist, mit zerstörter Infrastruktur und Immobilien als Spekulationsmasse. Keine Schulen, keine Fabriken, keine Zeitung, kein Bäcker oder Fleischer, nur Andenkenläden und schlechte, überteuerte Restaurants. Ein Endzeitszenario, das jetzt offenliegt.
Man muss sich auf den tastenden Gestus von »Moleküle der Erinnerung« einlassen wollen. Das hat etwas von einer filmischen Meditation. In der Montage von filmischem Archivmaterial, Briefen an den Vater, Gängen über den leeren Markusplatz bis hin zu dem Augenblick, als die Isolation des Filmemachers vollständig wird, bekommt der Ausnahmezustand etwas Poetisches. Segre findet im kleinen Haus seines Onkels Zuflucht, das - wie so viele andere - sonst die meiste Zeit leer steht. Aus Gespräch wird Selbstgespräch. Das alles transportiert den Eindruck des So-noch-nie-gesehen-Habens.
Merkwürdig die erleuchteten Schaufenster der luxuriösen Bekleidungsgeschäfte, aber kein Mensch weit und breit. Verlassene Konsumtempel. Andrea Segre sagt, sein Vater habe immer wieder Camus’ »Der Fremde« gelesen. Er sei sich sicher gewesen, dass etwas im Verborgenen sich unserer Verfügung beharrlich entzieht: das Schicksal. Was in den Gassen und Kanälen undurchdringlich scheint, ist der Nebel, in dem man weder nach vorn noch zurück schauen kann - ein tödliches Szenario. So wie die leeren Tische des »Café Florian« auf dem Markusplatz, die eingedeckt bleiben, obwohl es keine Gäste gibt - eine große, erschreckende Leere. So schmal ist der Grat zwischen Goldgrube und aufgegebener Stadt.
In der Mitte der Markuskirche bedeckt eine große leicht wellige Marmorplatte den Boden. »Das Meer« nennen sie die letzten Einheimischen. Denn sie ist glatt poliert, fast schon rundgeschliffen von der Zeit wie ein Kiesel im Meer. Immer wieder der Wechsel von neuem Leben und Tod, von zu wenig und zu viel Wasser, von Licht und Dunkelheit. Ein lange eingeübter Rhythmus, dem dieser ansehenswerte Film nachfolgt - aber wehe, der Rhythmus wird mutwillig unterbrochen.
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