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Appell für eine neue Sicherheitsarchitektur
Deutsche Wissenschaftler legen einen Plan vor, um die Situation an der russisch-ukrainischen Grenze zu entschärfen
Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) verabschiedete 1975 die Schlussakte von Helsinki; 15 Jahre später schien der Kalte Krieg beendet. Heute wachsen die politischen und militärischen Spannungen wieder. NATO-Truppen stehen an den Westgrenzen Russlands; russische Streitkräfte führen Manöver nahe der Ukraine durch. Rüstungskontrollvereinbarungen wie die Verträge über Mittelstreckenwaffen und den Offenen Himmel wurden von den USA unter Präsident Donald Trump einseitig aufgekündigt. Die Militärausgaben steigen – im vergangenen Jahr gaben allein die USA laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut Sipri 778 Milliarden Dollar aus, während es bei Russland fast 62 Milliarden waren. Schon wird von einem neuen Kalten Krieg gesprochen.
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Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Anfang Dezember meldete sich eine Gruppe deutscher Wissenschaftler sowie ehemaliger hochrangiger Diplomaten und Militärs zu Wort. In ihrem Aufruf »Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland« verlangen sie, ausgehend von einer nüchternen Analyse der gegenwärtigen Lage, praktische Schritte, um die gefährliche Eskalationsspirale zu durchbrechen. Ihr Ziel: »Die NATO sollte aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken.« Unkenntnis oder gar Nähe zu Moskau kann man ihnen nicht unterstellen – einige waren im politischen und militärischen Apparat von Bundesrepublik und NATO tätig – General a.D. Klaus Naumann gar Generalinspekteur der Bundeswehr (1991 bis 1996) und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses (1996 bis 1999).
Ausgehend von den Erfahrungen der KSZE schlagen sie eine hochrangige Konferenz vor, die ohne Vorbedingungen eine Erneuerung der europäischen Sicherheitsarchitektur beraten sollte. Hier könnte beispielsweise an einen konkreten Vorschlag von Finnlands Staatspräsident Sauli Niinistö angeknüpft werden: Im März dieses Jahres schlug er aus Anlass des 50. Jahrestages der KSZE für 2025 einen groß angelegten internationalen Gipfel in Helsinki vor. Diese Initiative fand bereits die Unterstützung seines russischen Kollegen Wladimir Putin. Die 27 Unterzeichner des Aufrufs gehen davon aus, dass die von ihnen vorgeschlagene Konferenz mindestens zwei Jahre tagen würde. Während dieser Zeit sollte auf beiden Seiten auf jede militärische Eskalation verzichtet werden, das heißt auch Verzicht auf Stationierung von zusätzlichen Truppen auf beiden Seiten der Grenze der Russischen Föderation zu ihren westlichen Nachbarn, aber auch die vollständige beiderseitige Transparenz bei Militärmanövern. Für die Dauer der Konferenz wäre auf die Erweiterung der beiderseitigen Militärbündnisse zu verzichten.
Auch der NATO-Russland-Dialog sollte wiederbelebt werden. Allerdings wird offen gelassen, wie die Wirksamkeit des NATO-Russland-Rates erhöht werden könnte. Ihn gerade im Fall von Spannungen auszusetzen, wie im Falle des Kaukasuskonflikts 2008 seitens der NATO geschehen, wird seiner Rolle nicht gerecht. Außerordentlich wichtig ist der Vorschlag zu einem »Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle«. Nach dem Wegfall einer Reihe von Rüstungskontrollabkommen müsste das jedoch hinausgehen über die von den Verfassern genannten Maßnahmen wie Schaffung von Transparenz, Vertrauensbildung oder Verstärkung von Kontakten auf politisch-militärischer Ebene. Sie können nur am Anfang eines solchen Prozesses stehen.
Mit dem Vorschlag zu weitergehender wirtschaftlicher Kooperation wird ebenfalls ein wichtiger Punkt aufgegriffen, denn, wie die Verfasser feststellen, wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte einen wichtigen Beitrag zur europäischen Stabilität leisten. Demgegenüber führt eine Politik, welche die andere Seite mit Sanktionen bedroht, zu Spannungen und Instabilität, wie gerade im Fall von Nord Stream 2 zu sehen ist.
Sicher, so manches in dem Aufruf mag der einen oder anderen Seite nicht gefallen. Wichtig ist jedoch das Bemühen, fruchtlose, konfrontative Rhetorik zu vermeiden und die Sicherheitsinteressen beider Seiten anzuerkennen bis hin zu der Schlussfolgerung, dass es für die Ukraine-Krise keine militärische Lösung gibt. Ein wichtiger Hinweis für die gerade ins Amt gekommene Bundesregierung.
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