Ein Verbrechen in jedermanns Nachbarschaft

Eine halbe Million Betroffene, mindestens 20.000 Tote: Eine neue Publikation verdeutlicht den Umfang von NS-Zwangsarbeit insbesondere in Sachsen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Areal zwischen Jagdschänken- und Anton-Günther-Straße im Chemnitzer Stadtteil Sigmar ist eine ruhige Wohngegend: Einfamilienhäuser, Wohnblocks; in Sichtweite ein früheres Bürogebäude der Wismut mit Säulen vor dem Portal. Im Zweiten Weltkrieg befand sich hier das Lager »Landgraf« - gut ein Dutzend Holzbaracken, in denen Zwangsarbeiter der »Auto-Union« untergebracht waren. Das Unternehmen fertigte Motoren für Panzer, mit denen das NS-Regime große Teile Europas erobern wollte. Weil die Soldaten als Arbeitskräfte in den heimischen Betrieben fehlten, wurden nicht zuletzt in den besetzten Gebieten in großem Stil Zwangsarbeiter rekrutiert - rund 13 Millionen während der Kriegsjahre.

Welche Rolle Zwangsarbeiter, zu denen auch sowjetische Kriegsgefangene und Häftlinge aus Konzentrationslagern gehörten, in der sächsischen Industrie spielten, beleuchtet eine umfangreiche Studie, die dieser Tage in der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung erschienen ist. Klaus-Dieter Müller und Dietmar Wendler, die den Band zusammen mit dem im Mai 2021 verstorbenen Rainer Ritscher verfassten, knüpfen damit an ihre im Jahr 2018 erschienene Studie »NS-Terror und Verfolgung in Sachsen« an, in der die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen nur gestreift wurde. Nun beleuchten die Historiker von der sogenannten »Atlas-Gruppe« die Materie in beispiellosem Detail.

Zunächst zeichnen sie nach, welche Rolle die Zwangsarbeit im NS-Staat generell spielte. Sie vertreten dabei die These, dass es keinen »Masterplan« dafür gab, das Regime aber auf zunehmende Engpässe im Arbeitskräftereservoir der deutschen Kriegswirtschaft reagierte. Auf dem Höhepunkt im Herbst 1944 waren zeitgleich allein acht Millionen Menschen zwangsweise in deutschen Betrieben und der Landwirtschaft tätig: Zivilisten aus besetzten Ländern wie Frankreich und Belgien, so genannte Ostarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, dazu Kriegsgefangene der Roten Armee und KZ-Insassen. Dabei gab es eine strenge Hierarchie; »Ostarbeiter« wurden weit schlechter behandelt als etwa Franzosen; gefangene Rotarmisten und vor allem KZ-Häftlinge waren weitgehend rechtlos und wurden ausgesprochen inhuman behandelt. Generell habe es eine »kumulative Radikalisierung« gegeben, je aussichtsloser die deutsche Position im Kriegsverlauf wurde.

In besonderem Detail widmen sich Müller und Wendler der Lage in Sachsen, und zwar aufgeschlüsselt nach Regionen. In Chemnitz und Umgebung stützte sich vor allem die Auto-Union auf die Ausbeutung von Zwangsarbeitern; es gab zahlreiche Außenlager des KZ Flossenbürg. Das wichtigste Zentrum der sächsischen Rüstungsproduktion lag in und um Leipzig, wo die Erla-Werke und Junkers für die Luftwaffe produzierten. Dazu kam der Braunkohlenbergbau samt Hydrierwerken für die Benzinproduktion. In Dresden waren Betriebe wie Zeiss-Ikon in die Rüstungsproduktion eingebunden, die ohne Zwangsarbeiter nicht aufrecht zu halten war. Insgesamt seien allein in Sachsen eine halbe Million Menschen derart ausgebeutet worden.

Dabei ging es nicht nur um die Aneignung von Arbeitskraft. Müller und Wendler schildern auch, unter welch erbärmlichen Bedingungen die Menschen oft schuften mussten - mit fatalen Folgen für Leib und Leben. Verwiesen wird auf mangelhafte Ernährung und Hygiene, aber auch unmenschliche Bedingungen beim Bau von Tunneln und Bunkern im verzweifelten Versuch, Betriebe vor Luftangriffen zu schützen. In Theresienstadt, wo die Auto-Union Stollen graben ließ, kamen von 18 000 KZ-Häftlingen bis zu 5700 um. In Sachsen starben im direkten Zusammenhang mit Zwangsarbeit mindestens 11 000 sowjetische Kriegsgefangene, 4200 Ostarbeiter*innen und 4100 KZ-Häftlinge. Weitere kamen bei den vielen Todesmärschen um.

Das Buch befasst sich auch mit der Verfolgung der Täter nach Kriegsende und den in der UdSSR schwierigen späteren Schicksalen der Betroffenen. Zu den größten Verdiensten gehört aber, dass es die schiere Dimension und die praktische Organisation der Zwangsarbeit beschreibt und so klar macht, wie allgegenwärtig diese im Alltag war. Sie fand unter aller Augen statt; ein »öffentliches Verbrechen«, sagt Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald / Mittelbau-Dora. Vielerorts ist man sich dessen bis heute nicht bewusst. In Chemnitz-Sigmar immerhin erinnert seit einiger Zeit eine Informationstafel daran, dass dort einst ein Barackenlager der Auto-Union stand, dessen Insassen gegen ihren Willen für den Krieg der Nazis schuften mussten.

Klaus-Dieter Müller / Dietmar Wendler: NS-Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft 1939 - 1945. Ausländereinsatz im Deutschen Reich und in Sachsen. 701 Seiten. Zu beziehen über die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung.

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