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Im Faradayschen Käfig

Magischer Survival Glow: Wenn es im italienischen Schnellzug still wird

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Das neue Jahr begann für mich dieses Mal schon am 28. Dezember, als ich, mal wieder, eine potenzielle Katastrophe überlebte. Wer mich kennt (oder liest), weiß, dass ich ein besonderes Talent dafür habe, mich in brenzlige Situationen zu bringen, die dann am Ende gut ausgehen. Vielleicht bin ich süchtig nach dem »Survival Glow«: Je nach Schwere des Unfalls bleibt, mal kürzer, mal länger, eine Art magische Aura um einen herum bestehen, ein Glanz der überraschenden Unversehrtheit. Man fühlt sich fast ein bisschen high, als wäre man von einer Art unsichtbarem Schutzmantel umgeben, der einen einhüllt und gegen alles Böse, was potenziell von Außen kommen könnte, abschirmt. Survival macht außerdem sexy - ich hatte immer tolle Affären nach meinem unerwarteten Überleben.

Dieses Mal war es nicht nur eine brenzlige, sondern eine regelrecht brizelige Situation: Meine Mutter und ich genossen gerade einen Lavazza-Cappuccino aus dem Bordrestaurant eines italienischen Schnellzuges, als plötzlich ein Blitz in die Oberleitung einschlug. Der Zug blieb abrupt stehen, aber es passierte zunächst gar nichts. Draußen dämmerte es schon und stürmte ein bisschen. Meine Mutter und ich waren kurz verstummt. Dann fuhr meine Mutter fort, mir mein Horoskop für das neue Jahr aus der italienischen Bahnzeitschrift vorzulesen. Mich erwartete, so übersetzte sie, ein »Techtelmechtel mit Venus in der Badewanne« und »gen Sonnenuntergang schwimmen mit Jupiter«.

Als sie den Namen Jupiter vorlas, blitzte es lautstark über uns, man sah Funken sprühen und Rauch - tatsächlich war es aber nicht Jupiter, der römische Himmels- und Wettergott, der mit uns gesprochen hatte, sondern die Stromleitung, die über dem Zug explodiert war. Einige Leute (darunter auch ich) hatten während der Explosion kurz und hoch aufgeschrien, beruhigten sich dann, nervös lachend, aber wieder, als es plötzlich abermals knallte und Funken sowie grünlicher Rauch aufstoben. Es wurde still im italienischen Schnellzug und dunkel - der Strom ging im Inneren des Zuges aus. Außen war er umso stärker - 20 000 Volt, wie der Schaffner bei der Durchsage erklärte. Wir dürften den Zug »auf keinen Fall verlassen«, es bestehe Lebensgefahr.

Wir befanden uns in einem Faradayschen Käfig. Faraday allerdings war kein römischer Gott wie Jupiter, sondern ein englischer Physiker, dessen Experiment man aus dem Museum für Verkehr und Technik kennt: Eine allseitig geschlossene Hülle aus einem elektrischen Leiter, die als elektrische Abschirmung wirkt. Eine Art undurchdringlicher Schutzmantel, der einen unberührbar machte - so ähnlich wie der »Survival Glow«.

Nach einigen Minuten sprach meine Mutter aus, was ich vorher für eine Einbildung gehalten hatte: Wir, direkt am Fenster sitzend, fühlten uns elektrisch, statisch aufgeladen. Ziemlich regungslos saßen wir kleinen, elektrischen Wesen irgendwo in der Schweiz in unserem unter Hochspannung stehenden Käfig. Die Leute um uns herum waren eher ratlos und still, nicht panisch, aber unter innerlicher Hochspannung, nicht »auf hundertachtzig«, aber irgendwie bebend, leicht vibrierend. Keiner freundete sich an, keiner gestand sich seine Liebe. Es war kein spektakulärer Flugzeugabsturz, es war eher eine Ruhe, von der man sich wünschte, dass ihr kein (weiterer) Sturm folgte. Schaulustige versammelten sich um den stehenden Zug und fotografierten ihn - wahrscheinlich ohne daran zu denken, dass er gefüllt war.

Nach ein paar Stunden wurden wir durch eine Tür im vorderen Teil des Zuges evakuiert. Von außen sah man, dass die gesamte Oberleitung durchgebrannt und auf das Dach des Zuges gekracht war. Niemand von uns war in der Stimmung, ein Foto zu machen. Eine Stunde später erschien in den Schweizer Lokalnachrichten ein Artikel über den Unfall: »Beinahe Katastrophe - Eurocity reißt Stromleitungen nieder«.

Ich wusste plötzlich, dass (ein paar Tage zu früh) mein neues Jahr begonnen hatte - und, pathetisch gesagt, auch mein Leben, mal wieder.

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