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Eine Träne Glas nur
Materialkunde: Michael Mädes neue Gedichte entspringen den Werken anderer Künstler
Michael Mädes Gedichtband »Higgs Field« weist sich im Untertitel als »Texte zur Kunst« aus. Primär bezieht er sich dabei auf eine »Higgs Field« benannte Skulptur von Alexander Polzin, die der Künstler zweifach ausgeführt hat, zuerst aus Glas und dann in Bronze. Die Skulptur stellt die monolithische Liebesvereinigung eines Paares, Mann und Frau, dar.
Der zweifachen Ausführung trägt Mäde in zwei Gedichten Rechnung. In »Materialkunde 1« schreibt er über die Glas-Version: »Ein Tropfen Glas in eine Wunde, / die nicht heilt seit tausend Jahren. / Eine Träne Glas nur / wider alles tröstliche Gebaren.« Schon hier wird klar, dass es über das Universelle hinaus um individuellen (untröstlichen) Schmerz geht. Von der Bronzeausführung der Skulptur heißt es in »Materialkunde 2«: »Das bronzene Paar nun / Umfängt uns in Erstarrung. / Brüchig der Sockel, aus solidem Material. / Sie, ausgebleicht / Vom Licht der Tage / Nimmt die Farbe auf. / Das Glas, das einst ihn / Umschloss, ist trübe geworden.«
Hier, noch mehr als beim gläsernen Liebespaar, geht es Mäde bei Weitem um mehr als die bloße, an sich akkurate Skulpturbeschreibung. Was sich aber als eine überindividuelle Reflexion über jegliche Frau-Mann-Beziehung ausnehmen mag, suggeriert letztlich zutiefst Persönliches, wunderbar lyrisch gefasst.
In der Tat zeichnet Mädes Lyrik schon immer eine (zuweilen amalgamierte) Mischung aus persönlicher Welterfahrung und objektiver Erkenntnis über Weltzustand und Geschichtsverlauf der Menschen - eine Mischung, die in den letzten Jahren vom Ringen um Genesung von Krankheit durchwirkt ist. Mit Bezug auf die Skulptur schreibt Mäde: »Er, eine gesichtslose Gestalt / die einen Schatten wirft, / müht sich, ihre Fühlung / nicht zu verlieren. // Sie spüren den Druck / der Elemente.« Und wieder - Skulptur, aber eben nicht nur. Denn zuvor heißt es bereits: »Und immer hoffen dürfen, / Sich zu begegnen / In anderer Landschaft / Und neuer Gestalt. / Begehrend ein Licht, / Dem beide folgen werden, / Solange sie zusammen / Keinen Schatten werfen / Immer also nur zwischen / Nacht und Morgen.«
Die Hoffnung auf Begegnung, auf neue Gestalt, das Begehren des Lichts, dem man folgen kann - sie sind nicht der Skulpturform eingegeben, nicht ihr zu entnehmen, sondern werden auf sie projiziert. Und doch entstammt die Inspiration zum Gedicht dem gussbronzenen und gläsernen Werk, weiß sich ihm verpflichtet. Die künstlerische Symbiose gelingt. Und sie steigert sich noch zum Allerpersönlichsten in der Synthese von Verzweiflung, Angewiesenheit und zwischenzeitlicher Errettung. Und so nimmt es sich fast schon versöhnlich aus, wenn Mäde zum Abschluss der Polzins Skulptur gewidmeten Gedichte dieses Bandes gleichsam resümiert: »Sie gehen wieder / durch den Tag / wie durch ein Gebirge. // Er hilft ihr / über Unebenheiten, / Hohn und dosierte, beiläufige Bosheit. // Dankbar sieht er schließlich / das Schwinden des Lichts, / im Winter seiner Existenz.« Welch wunderbare Worte zur abschließenden Würdigung der liebenden Zweisamkeit, des stützenden Beistands und der Dankbarkeit, selbst noch in der Agonie.
Im Weiteren befasst sich der Band mit den Werken anderer Künstler: Den Dichter Jakob Reinhold Michael Lenz (1751-1792), der ein bewegtes Leben führte, psychisch erkrankte und ohne Anerkennung seiner Schriften in Moskau verendete, zitiert Mäde mit dessen Gedicht »An den Geist« und widmet ihm sein Gedicht »Farce«, in dem sich zwei bezeichnende Verse finden: »Ich prob’ die Rückkehr / zu den Versen, / mir lächelt / meine Leere zu.« Und weiter unten: »Nach Umkehr sann ich, / nicht nach großer Flucht. / Mein eigener Schädel / versperrte mir die Sicht.« Nicht von ungefähr ist der Lenz gewidmete Teil des Bandes mit »Waldbruder« übertitelt.
Den Schriftsteller und Grafiker Christoph Meckel (1935-2020) zitiert Mäde mit der Zeile »Er hat aufgehört, seine Höllen zu zählen / seit immer andere sich auftun«. Ihm widmet er unter anderem ein Gedicht, das exemplarisch für das politisch-gesellschaftliche Paradigma in Mädes Denken stehen mag. Auch dieses Gedicht ist von gewisser Melancholie - nicht nur die eigene Lebenszeit ist begrenzt, sondern auch die der gelebten geschichtlichen Zeit gelangt an ihr Ende und erfüllt mit resignierender Wehmut: »Was blieb von all dem Wollen, / den Gesängen in seinem Kopf, / und all der Lust? / Die Maschinisten der Regression / grinsen um die Wette. / Verlorene Genossen lächeln / höflich, fremd. / Und alle Kunst / bleibt Ornament.«
Dem Werk der 1956 geborenen Malerin und Grafikerin Heike Ruschmeyer, das sich primär mit Protagonisten und Opfern krimineller Gewalt im sozialen Kontext befasst, widmet Mäde ein beredtes Gedicht: »Kahl der Platz / Das regennasse Pflaster / gewaschen das Blut / vom Stein, blank geputzt, / Keine Totenwache. / schnell geräumt / und bitte rasch vergessen / den Tatort. / Der Alltag droht / Fortsetzung folgt.« Das entsetzlich Anonyme, die strukturelle Entindividualisierung des Opfers können nur noch beklagt werden; die Klage hofft nicht mehr, kann nur noch anmahnen. In der Tat: »Was blieb von all dem Wollen«?
Oder etwa nicht? Ein kleines schimmerndes »Und doch« bietet Mäde am Ende seines schönen Lyrikbandes im »Postskriptum« auf Seite 69 an: »Und doch bleibt da / das Ding mit der Freundlichkeit, / der Welt und dem Künstler, / der auch nur ein Mensch ist. / Ein dialektisches Verhältnis, / jeden Tag / auf Messers Schneide / auf der Straße und im Atelier. / Arbeiten, am Leben bleiben: / So sehen unsere Siege / heute aus.«
Michael Mäde-Murray: Higgs Field. Privatdruck in limitierter Erstauflage in 250 Exemplaren. ISBN: 978-3-00-069712-8, 72 S., br., 15 €.
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