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»Warum sollte jemand Interesse haben, Kasachstan zu destabilisieren?«
Die Zentralasien-Expertin Beate Eschment über die anhaltenden Proteste und die Frage, warum die Menschen so wütend sind
Seit Jahresbeginn gehen die Menschen in vielen Teilen Kasachstans auf die Straße. Wogegen protestieren sie?
Die Preise für Flüssiggas sind nur der Anlass gewesen, der die Leute auf die Straße getrieben hat. In Wirklichkeit ist es eine tiefe Unzufriedenheit mit den ökonomischen Bedingungen. Die Leute stellen politische Forderungen, weil sie insgesamt finden, das Land müsste sich verändern.
In welche Richtung?
Der erste Präsident Kasachstans, der ja auch mit offiziellem Titel Erster Präsident heißt, Nursultan Nasarbajew, hat das Land von 1991 bis 2019 angeführt. Lange Zeit war Kasachstan wirtschaftlich sehr erfolgreich, da ist auch einiges für die Bevölkerung abgefallen. Solange haben die Menschen eine Politik hingenommen, die die Bevölkerung kaum beteiligt. Der Rückgang der Erdölpreise, von dem Kasachstan existenziell abhängt, die Folgen der Coronakrise und der Absturz der kasachischen Währung Tenge haben dazu geführt, dass die Bevölkerung – und nicht nur die ärmere, sondern auch die Mittelschicht – stark betroffen ist und mit dem sozialen Abstieg kämpft. Das führt dazu, dass man auch darüber nachdenkt, ob das ganze System nicht vom Kopf her stinkt, weil die geschlossene Clique der Politiker auch korrupt ist.
Es gibt auch in der jüngeren Generation große Gruppen, die einfach mehr Teilhabe fordern. Und vor allem wollen sie den endgültigen Rückzug von Nasarbajew aus der Politik. Denn er ist zwar 2019 zurückgetreten, hat aber dafür gesorgt, dass er weiterhin entscheidende Funktionen in der Hand behält. Alle hoffen, dass es besser wird, wenn er nicht mehr an den Fäden zieht.
Kann man die Proteste in Kasachstan vergleichen mit denen in Belarus, oder gibt es eine Spezifik?
Ich bin keine Belarus-Expertin, aber da ist es ja wohl so, dass die breite Bevölkerung sich beteiligt, auch die Mittel- und Bildungsschicht. Im Falle Kasachstans habe ich den Eindruck, dass nicht die Bildungselite oder die Mittelschicht protestieren, sondern Menschen, die eher am unteren Ende der sozialen Skala leben und entsprechend ihrer Wut Ausdruck verleihen. Dazu ist zu sagen: Wenn Menschen in autoritären Regimen nie gelernt haben oder nie die Chance hatten, durch Wahlen ihre Wünsche zu äußern, dann kann man sich auch nicht wundern, wenn sie das auf diese Weise tun.
Gibt es Anführer oder ist alles spontan?
Solange ich mich noch breiter über Internet informieren konnte, war für mich keine Steuerung zu erkennen. Bei den Forderungen, die aus verschiedenen Ecken des Landes kamen, hatte ich nicht das Gefühl, da stimmt sich irgendjemand ab oder die Demonstrierenden folgen irgendeiner Weisung. Das ist ein Grundproblem: Ein autoritäres Regime gibt nun mal keine Chance, dass oppositionell Erfahrene nachwachsen können. Das Andere ist, dass es seitens des Regimes seit Jahren, wenn irgendwie Unzufriedenheit geäußert wird, immer heißt, die Leute seien von dem ins Ausland geflohenen Oppositionellen Mukhtar Abljasow gesteuert. Das ist die beste Ausrede, um sich nicht mit den echten Problemen des Landes auseinandersetzen zu müssen. Ich glaube daran nicht.
Präsident Tokajew sprach von »Terroristen«, die – gelenkt aus dem Ausland – Konflikte schürten. Was ist da dran?
Das ist es ja: Warum sollte irgendjemand Interesse haben, Kasachstan zu destabilisieren? Das ist dieser klassische Versuch: Wir sind nicht schuld, die anderen haben unsere arme, ahnungslose Bevölkerung verführt.
Ist Tokajew wirklich nicht mehr als ein Strohmann für Nasarbajew?
Ich halte das für zu einfach, aber die entscheidende Frage ist, wie die Bevölkerung das interpretiert. Auf der Straße wurde gebrüllt: »Alter, hau ab!«, gemeint war Nasarbajew. Dadurch, dass er noch im Hintergrund wirkt, entsteht bei den Leuten das Gefühl: »Hat das denn nie ein Ende? Mit ihm wird sich bei uns auch nichts ändern.« Aber Nasarbajew ist nicht allein, um ihn herum schart sich eine Elite, die vom System profitiert und möchte, dass alles so bleibt. Tokajews Spielraum hängt auch daran, wie weit er sich gegen die Reichen um ihn herum wenden kann. Die haben jetzt wohl im Privatflugzeug das Land verlassen, wollen aber bestimmt wiederkommen.
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