Spaniens Regierung kapituliert vor Omikron-Welle

Gewerkschaften und Ärzte warnen vor einem Zusammenbruch der medizinischen Grundversorgung

  • Ralf Streck, San Sebastian
  • Lesedauer: 5 Min.

»Das System der medizinischen Grundversorgung kollabiert«, erklärt Arantxa. Die baskische Ärztin, die ihren kompletten Namen nicht nennen will, geht davon aus, dass das gesamte spanische Gesundheitssystem längst überlastet ist. »Wir fühlen uns von der Politik im Stich gelassen«, sagt die Ärztin, die in einem Gesundheitszentrum arbeitet.

Man sei in der sechsten Welle »völlig ausgebrannt«, fügt sie hinzu. Deshalb werde sie dem Aufruf der Gewerkschaften folgen und am 23. Januar gegen den »Kollaps des Gesundheitssystems« auf die Straße gehen. »Wie wir diese Woche überstehen, ist unklar«, sagt Arantxa. Denn auch im Baskenland werden so viele Infektionen wie nie zuvor registriert. Etliche Ärzte und Krankenpfleger befinden sich selbst in Quarantäne, die Sieben-Tage-Inzidenz ist schon vergangenen Freitag auf 3350 emporgeschnellt.

Die Gewerkschaften sind sich einig, dass man mit strukturellen Problemen im Gesundheitssystem zu kämpfen hat, die durch die Coronakrise noch verschärft wurden. »Seit Jahren kritisieren wir, dass die Lage in der Grundversorgung schlecht ist«, sagt Pilar Mendia. Die Sprecherin der Gewerkschaft für Ärzte und Krankenpfleger verweist auf das Jahr 2019: »Schon damals haben wir drei Tage gestreikt.« Nun sei es nicht mehr zum Aushalten, weshalb es im Dezember erste Protestversammlungen vor Krankenhäusern gab. Man sei »physisch, psychologisch und emotional an alle Grenzen« gelangt. Dass die baskische Regierung im Oktober befristete Verträge von 4000 Beschäftigten habe auslaufen lassen, erregt auch bei Arantxa besonders viel Wut.

Die Protestwelle, vor der das Baskenland nun steht, hat weniger damit zu tun, dass die Lage im Gesundheitswesen hier besonders schlecht ist, es zählt vielmehr zu den besten in Spanien. Der Grund ist, dass die Omikron-Welle im Norden besonders stark wütet und die baskischen Gewerkschaften sehr kämpferisch sind.

Seit Dezember kollabiert indes auch in der Hauptstadt Madrid die Grundversorgung, wie die Tageszeitung »El País« jüngst berichtete. »Faktisch ist das System schon kollabiert«, erklärte der Arzt Javier Padilla. Zum Glück sei die Lage in den Krankenhäusern, mit Ausnahme einiger Notaufnahmen, noch nicht so dramatisch, fügt Padilla an, der für die Partei Más Madrid (Mehr Madrid) im Regionalparlament sitzt.

Die Ärztin Arantxa macht für die Lage Versäumnisse der sozialdemokratischen Regierung von Pedro Sánchez verantwortlich. Diese hatte vor Weihnachten lediglich eine Maskenpflicht im Freien verordnet. »Das ist die Maßnahme, die am wenigsten bringt, denn dann sitzen die Leute in gut gefüllten Bars und Restaurants, nehmen beim Essen und Trinken die Maske ab und infizieren sich«, sagt Arantxa.

Mit den Feiern über Weihnachten und Neujahr sowie der Verbreitung der neuen, offenbar ansteckenderen Omikron-Variante ist die Zahl der Corona-Neuinfektionen dann in die Höhe geschnellt. So musste das Gesundheitsministerium bereits Ende vergangener Woche 242 000 Neuansteckungen binnen 24 Stunden melden. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt damit im Landesdurchschnitt bei fast 1700. Im Baskenland und im angrenzenden Navarra ist die Inzidenz sogar doppelt so hoch. Und in Navarra wurde über das Wochenende ein neuer Rekord bei den Neuinfektionen gemeldet, womit sich zeigt, dass der Höhepunkt noch nicht erreicht ist.

Auch verzeichnet Spanien wieder mehr Opfer. Am Freitag wurden 97 Todesfälle im Zusammenhang mit einer Covid-Erkrankung registriert. Krankenhäuser und Intensivstationen füllen sich. So korrigieren die Gewerkschaften derzeit immer wieder die Behauptungen des Gesundheitsministeriums, wenn dieses versucht, die Lage zu beschönigen und meint, dass auf Mallorca und den Balearen nur 25 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt seien. Die Ärztegewerkschaft Simebal hingegen erklärt, dass die Intensivstationen bereits »total kollabiert« seien. Offiziell sind in Katalonien etwa 41 Prozent aller Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt.

Indes sind die Corona-Zahlen aus Spanien derzeit relativ ungenau. Viele Fälle werden nicht gemeldet, da die Weihnachtsfeiertage hier bis zum 6. Januar andauern. Erst im Laufe dieser Woche ist mit verlässlichen Daten und vielen Nachmeldungen zu rechnen. Da der 6. Januar ein großer Festtag mit vielen Feiern war, rechnen Experten damit, dass die Höchstwerte erst demnächst erreicht werden. Etwa eine Woche später wird sich dann zeigen, ob das Gesundheitssystem standhält.

Die Regierung setzt derweil auf das Prinzip Hoffnung: Das Gesundheitssystem wurde nicht verstärkt, Nachverfolgung gibt es nicht mehr, und sogar wenn man enge Kontakte zu Infizierten hatte, wird nicht mehr getestet. Es war lange sogar unmöglich, einen Test in einer Apotheke zu kaufen, obwohl Selbsttests dort mit fünf bis acht Euro vergleichsweise teuer sind. Seit Langem wird gefordert, sie wie in den Nachbarländern Frankreich und Portugal auch in Supermärkten zu verkaufen, wo sie weniger als zwei Euro kosten.

Um das Weihnachtsgeschäft nicht zu stören und die Wirtschaft nicht zu belasten, setzte Sánchez auf einen waghalsigen Kurs, der eine Durchseuchung über Omikron in Kauf nimmt. Er erklärt nun, man müsse »mit dem Virus leben lernen« und sich an »aktuelle Charakteristiken der Krankheit anpassen«. Er hofft, dass es künftig vermehrt zu schwächeren Verläufen kommt und dass die hohe Impfquote von 80 Prozent den Kollaps im Gesundheitswesen verhindert.

Schwere Verläufe treten in Spanien vor allem bei Ungeimpften auf. Eine Untersuchung des Gesundheitsministeriums ergab, dass ein ungeimpfter älterer Mensch im Vergleich zu einem Geimpften eine 20-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit hat, an Covid-19 zu sterben..

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