Ein Ausflug ins Dorf

Mit seinem Buch »Aufs Land« möchte Ernst Paul Dörfler das Aussterben des ländlichen Raums umkehren. Ein Besuch bei ihm in seinem 250-Einwohner-Dorf in Mittelelbe

  • Christoph Kuhn
  • Lesedauer: 6 Min.
Mehr begreifen: Ernst Paul Dörfler glaubt ans Land und sogar an Gott
Mehr begreifen: Ernst Paul Dörfler glaubt ans Land und sogar an Gott

Es ist nicht leicht, mit Ernst Paul Dörfler einen gemeinsamen Termin zu finden, weil er, so lange es die Pandemie zuließ, mit seinem Buch »Aufs Land« zu Lesungen unterwegs ist und Absprachen trifft für Interviews und Gesprächsrunden. Wir finden dann doch einen Tag im Herbst, der sogar relativ milde und sonnig ist, denn wir wollen im Freien sein, sagt er am Telefon.

Mit dem Zug geht es nach Zerbst, der seinem Wohnort Steckby nächstgelegenen Bahnstation. Von da aus zehn Kilometer mit dem Fahrrad über die Landstraße. Das Dorf liegt im Biosphärenreservat Mittelelbe, zählt 250 Seelen; hat eine Radfahrerkirche, eine Storchenmühle und erstaunlich viele Vereine.

Auf die Frage nach Dörflers Haus wird mir mehrfach bereitwillig Auskunft gegeben. Der Ökochemiker und Buchautor wohnt hier schon seit Jahrzehnten, ist prominent und wird geschätzt.

Als ich da bin, führt er mich zuerst durch den Garten hinterm Haus. Hier stehen Apfel- Pfirsich- und Feigenbäume, Sonnenblumen, Himbeer-, Andenbeeren-, Stachelbeer-, und Blaubeersträucher, Tomatenstauden. Bohnenpflanzen winden sich am Gestänge, Wein rankt an den Fassaden. Am Boden wachsen Zucchini, sogar Wassermelonen, unterirdisch Radieschen, roter Rettich und natürlich Möhren. Oder Kartoffeln, davon gibt es gleich welche zum Mittagsmahl. Für den Quark dazu sammeln wir Dill, Petersilie, Kerbel und andere mir bislang unbekannte Kräuter. Wir schneiden Zwiebeln und Knoblauch und holen Besteck, Teller und Gläser aus dem Haus.

Der Gartentisch ist gedeckt, und wir reden beim Essen schon über das Landleben, wie es im Buch steht und wie es der Autor selbst praktiziert. Sein Garten versorgt ihn, saisonbedingt, mit fast allen nötigen Nahrungsmitteln.

Wer Dörflers vogelkundliche Bücher kennt, beispielsweise »Nestwärme« (2019 bei Hanser erschienen), wird erstaunt sein, dass es jetzt im neuen Buch ums große Ganze geht: um die vielfältige und rasante Naturzerstörung in Stadt und Land und um Auswege aus der Klimakrise, der Monokultur und dem Konsumzwang - um die Änderung des allgemeinen Lebensstils.

»Aufs Land« kann als Fortsetzung seines ersten Buches »Zurück zur Natur« betrachtet werden. 1986 erschien es im Leipziger Urania-Verlag, später im Harry-Deutsch-Verlag Frankfurt am Main. Das Buch war richtungsweisend für die DDR-Umweltbewegung.

Dörfler, 1950 geboren, aufgewachsen in Meuro bei Bad Schmiedeberg, ist seit 1983 freier Autor. Er war Mitbegründer der Partei Bündnis 90/Die Grünen in der DDR und bis 1990 Abgeordneter des Bundestages. Sein neues Buch aktualisiert in gewisser Weise das von vor 35 Jahren.

Grundsätzliches hat sich in der Klimapolitik nicht getan, sagt Dörfler und erinnert daran, dass am 29. Juli der Erdüberlastungstag war; seitdem lebt die Menschheit selbstzerstörerisch von den Ressourcen, die den nächsten Generationen zustehen. Die Gründe sind komplex: Wachstumszwang, Überkonsum, verhängnisvolle Produktionsketten, falsche Preispolitik, Entfremdung von der Natur, Denaturierung der Landschaft …

Von der Landschaft der Elbauen kann ich mir beim gemeinsamen Spaziergang ein Bild machen. Im Unesco-Biosphärenreservat soll Harmonie zwischen den Menschen und ihrer natürlichen Umgebung hergestellt werden - eine löbliche Absicht, deren Umsetzung immer wieder behindert wird, zum Beispiel durch den kanalartigen Ausbau des Flusses zur reinen Wasserstraße. Für den Erhalt der natürlichen Elbufer und Auen hat sich Dörfler jahrzehntelang engagiert.

Er beschäftigt sich nicht nur mit dem Einfordern staatlicher Aufgaben und mit dem Versagen der Politik. »Aufs Land« - ein Titel ohne Ausrufezeichen - richtet sich an alle. Es geht um das Aussterben des ländlichen Raums, um das dringende Ziel, Fehlentwicklungen umzukehren, zu erkennen, was Wälder und biologische Vielfalt für das Lebensnotwendige bedeuten - für die Lebensmittel, die die Stadt verbraucht und die sie dem Land in viel zu geringem Umfang honoriert; ein »ökoparasitäres Verhalten« findet Dörfler. Auch schreibt er, dass der Mensch auf dem Land stressfreier und - somit auch seelisch - gesünder lebt. Das Landleben müsse aber attraktiver werden, zum Beispiel mit besserem öffentlichem Verkehr und leichterem Zugang zum Internet.

Jugendliche können bei Dörfler im Freiwilligen Ökologischen Jahr Workshops besuchen; da erfahren sie, wie ein ökologisches Dorf beschaffen sein müsste, wie Biodiversität zu bewahren und der Boden agrargiftfrei und zum Tierwohl nachhaltiger zu bewirtschaften ist.

Welche Wege sieht Dörfler nun aus dem Krisenmodus für sich persönlich und für die Gesellschaft? Er sagt, auf dem Land lebe er weitgehend klimaneutral und im Einklang mit der Natur; das heißt, dass er immer wieder alle Lebens- und Handlungsbereiche überprüfe: Die Art zu wohnen, sich zu kleiden und zu ernähren, mobil zu sein, Dienstleistungen zu beanspruchen - alles ist mit Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß verbunden. Daraus ergab sich für ihn eine Reduktionsstrategie (schon lange, bevor von Klimakrise so viel geredet wurde wie heute). Ein »Weniger« in jeder materiellen Beziehung bedeute für ihn nicht Verzicht, sondern Gewinn, Gewinn an Zeit, an Geld, an Freiheit, Leichtigkeit und Lebensqualität. Überflüssiges einfach wegzulassen, bereichere ihn in seinem Naturerleben, vertiefe seine menschlichen Beziehungen. Nur so könne er auch für andere sorgen und möglicherweise Vorbild sein.

In dem teilweise sehr persönlichen Buch wird - global und regional - der Begriff »Natur« in Beziehung gesetzt zu verschiedenen Themen wie Arbeit, Bildung, Geld, Wohnen, Kindheit, Haustiere, Müll und Psyche. Nicht aber zur Religion, zum Christentum - warum nicht? Er habe sich beschränken müssen, es würde für ihn fast ein weiteres Buch bedeuten, sagt Dörfler, der Mitglied der evangelischen Kirche ist. »Gottes Stimme« höre er aber eher in der Natur als dort. Liegt es an der besonderen DDR-Situation, dass vor Jahrzehnten Ökologie für die Kirche wichtiger war als heute, obwohl sich die Lage verschärft hat?

Die Thesen des Konziliaren Prozesses, mit denen die christlichen Kirchen seit 1983 weltweit »Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung« einfordern, sind für Dörfler zwar immer dringlicher, würden aber nur selten oder nur noch kleinlaut vorgebracht, sagt er. Beim aktiven Klimaschutz ist die Kirche nicht vorbildhaft, sagt er. »Die Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen haben wir in der Hand: die Politik, die Wirtschaft, Institutionen, Kommunen, Wohngemeinschaften, Freundeskreise, Familien, Paare, Einzelne - alle Verantwortlichen in der Gesellschaft. Es gibt kein Erkenntnisproblem - es ist eine Frage des Willens und der Umsetzung.« Sein Fazit: Konsequenter Klimaschutz ist eine Gewinnstrategie. Er ruft dazu auf, »die Herausforderung tagtäglich anzunehmen, mit Freude und Zuversicht.«

Ernst Paul Dörfler: Aufs Land - Wege aus Klimakrise, Monokultur und Konsumzwang. Hanser, 351 S., geb., 22 €.

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