- Wirtschaft und Umwelt
- Krebs durch Pestizide
Mit zweierlei Maß
Frankreich erkennt Krebsrisiko als Berufskrankheit bei Plantagenarbeitern auch auf den Antillen an
Im französischen Überseedepartement Guadeloupe wurde die kleine Meldung in den Medien als großer Etappensieg gefeiert: Im Amtsanzeiger »Journal officiel« wurden per Dekret Krebserkrankungen von Personen, die jahrelang auf Bananenplantagen gearbeitet haben und dort in Kontakt mit dem hochgiftigen Pestizid Chlordecon gekommen sind, endlich als Berufskrankheit anerkannt. Wie hoch die Entschädigungssummen konkret sind und wie viele Menschen Anspruch auf diese haben, teilte das Landwirtschaftsministerium noch nicht mit.
Der am Mittwoch in Berlin vorgestellte »Pestizidatlas 2022« zeigt, dass die Menge weltweit eingesetzter Pestizide seit 1990 um 80 Prozent gestiegen ist, in einigen Regionen wie Südamerika sogar um fast 150 Prozent. Herausgegeben wurde der Atlas vom Bund für Umwelt und Naturschutz, der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany). Demnach liegt auch in der EU der Einsatz mit rund 350 000 Tonnen weiter auf hohem Niveau. In Deutschland werden Äpfel etwa 30-mal pro Saison gespritzt, Weinreben bis zu 17-mal und Kartoffeln bis zu 11-mal.
Die global wachsende Menge an eingesetzten Pestiziden führt laut Atlas weltweit zu einem Anstieg an Pestizidvergiftungen - insbesondere im Globalen Süden, wo Arbeiter*innen oftmals nicht ausreichend geschützt sind. So sei konservativen Berechnungen zufolge in Asien von jährlich rund 255 Millionen Vergiftungsunfällen auszugehen, in Afrika von knapp über 100 Millionen und in Europa von rund 1,6 Millionen. Auch deutsche Firmen exportieren hochgefährliche Pestizide nach Afrika, Asien und Lateinamerika, die hierzulande längst verboten sind. had
Chlordecon wurde im Zeitraum von 1972 bis 1993 massiv als Insektenvertilgungsmittel in den französischen Überseegebieten der Antillen eingesetzt. Nach dem jetzt vorliegenden Dekret haben allerdings nur Landarbeiter Anspruch auf Anerkennung und Rente, die mindestens zehn Jahre auf Bananenplantagen gearbeitet haben und bei denen zwischen dem letzten Kontakt mit dem Insektizid und der Diagnose eines Prostatakrebses mindestens 40 Jahre vergangen sind. Für die Verbände der Opfer, die seit 2006 gegen den Staat wegen »lebensbedrohlicher Gesundheitsgefährdung« prozessiert haben, ist das also nur ein erster Erfolg. Sie werden weiterkämpfen, bis die einschränkenden Bedingungen gelockert werden und man den Kreis der Opfer, die eine finanzielle Wiedergutmachung beanspruchen können, wesentlich weiter fasst.
Chlordecon ist ein endokriner Disruptor, also eine Chemikalie, die die natürliche biochemische Wirkweise von Hormonen stören und dadurch schädliche Effekte hervorrufen kann - beispielsweise die Störung von Wachstum und Entwicklung. Das Pestizid, dessen bedenklicher Charakter bereits seit den 60er Jahren bekannt war, wurde 1979 von der UN-Weltgesundheitsorganisation WHO auf die Liste der potenziell krebserregenden Stoffe gesetzt.
In den französischen Antillen-Gebieten Guadeloupe und Martinique ist die Zahl der Prostatakrebserkrankungen pro Kopf die höchste in der Welt. Während Chlordecon in Kontinental-Frankreich bereits seit 1990 nicht mehr eingesetzt werden durfte, dauerte es bis zum Verbot in den französischen Antillen-Gebieten bis 1993. Hier hatten die Plantagenbesitzer eine Ausnahmegenehmigung erwirkt. Die besorgten Landarbeiter wurden von den Gesundheitsämtern vor Ort beruhigt. Aufgedeckt wurden die gesundheitlichen Risiken erst Jahre später durch die Nachforschungen von Umweltverbänden und Bürgerinitiativen. Von diesen um Hilfe gebetene Wissenschaftler ermittelten, dass in den Antillen mehr als 90 Prozent der Bevölkerung betroffen sind, was darauf zurückzuführen ist, dass sich der Einsatz von Chlordecon nicht auf die Bananenplantagen beschränkte. Über das dadurch vergiftete Grundwasser sind auch die Anbauflächen für Obst und Gemüse wahrscheinlich für Jahrhunderte belastet.
Die Lügen in Sachen Chlordecon von offizieller Seite haben vor allem in Guadeloupe zu einem tiefen Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen geführt. Das ist ein Nährboden für per Internet verbreitete Fake News und Verschwörungstheorien. Darum ist es nicht verwunderlich, dass hier in der gegenwärtigen Corona-Pandemie die Impfrate die niedrigste aller französischen Departements ist. Das ist bedenklich für die Gesundheit der Bevölkerung und riskant für die Krankenhäuser, wo die Kapazität der Intensivstationen nicht ausreicht.
Zu einem offenen Konflikt kam es, als die Pariser Regierung vor Monaten eine Impfpflicht für alle Beschäftigten des Gesundheitswesens verhängte. Während sich in Kontinental-Frankreich nur einige Hundert der insgesamt mehr als 200 000 Ärzte und Pflegekräfte einer Impfung widersetzten, gilt das in Guadeloupe für die Mehrheit der Beschäftigten. Sie kämpfen seit Wochen mit zum Teil gewalttätigen Aktionen dafür, dass die Impfpflicht für die Antillen ausgesetzt wird. Dass die örtlichen Gewerkschaften diesen Kampf anführen, ist den Pariser Gewerkschaftszentralen äußerst peinlich.
Unterdessen eskalieren die Aktionen. Nach der tagelangen Besetzung und Blockierung von Krankenhäusern wurde in der vergangenen Woche das Gesundheitsamt von Guadeloupe belagert und dessen Direktorium als Geisel entführt und erst nach Stunden wieder freigelassen. Ihren vorläufigen Höhepunkt fanden die Aktionen Anfang dieser Woche, als ein Parlamentsabgeordneter vor seinem Haus von Demonstranten tätlich angegriffen wurde, mit denen er diskutieren wollte. Zuvor hatte er in der Pariser Nationalversammlung für den Impfpass gestimmt, der ab Mitte Januar Bedingung sein wird für den Zugang zu gastronomischen oder kulturellen Einrichtungen oder Reisen.
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