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Der »Krebs« des Judenhasses

Im Bundestag warnen Politiker und Holocaust-Überlebende vor neuem Antisemitismus

  • Verena Schmitt-Roschmann und Axel Hofmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Ruhig und gefasst erzählte Inge Auerbacher ihre Geschichte. »Ich bin ein jüdisches Mädel aus dem badischen Dorf Kippenheim«, sagte die 87-jährige Holocaust-Überlebende am Donnerstag unter der Kuppel des Reichstagsgebäudes. Auch nach Jahrzehnten in ihrer neuen Heimat New York hat Auerbacher einen badischen Akzent. Sie spricht von Versöhnung und gegen den Hass. Aber ihr Blick zurück nach Kippenheim ist erschütternd. »Ich war das letzte jüdische Kind, das dort geboren wurde.«

Der Bundestag erinnerte zum Holocaust-Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. 77 Jahre nach der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee wird inzwischen viel debattiert über die Erinnerungskultur. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warnte vor einer Erstarrung in »Formeln und Ritualen«. Auerbachers Rede aber hatte nichts Formelhaftes. Sie sprach von einem Grauen, das nicht vergeht.

Nur 25 Minuten reichten der alten Dame, ihren unfassbaren Lebensweg zu schildern. Der unfreiwillige Umzug aus Kippenheim zu ihren Großeltern, die Zwangsarbeit der Eltern, der lange Weg zur einzigen jüdischen Schule in Stuttgart, die Verhöhnung durch den gelben Judenstern. 1942 wurde die Familie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie zusammengepfercht mit Tausenden anderen, mit Ratten und Ungeziefer, mit Krankheiten und Hunger lebte. »Die wichtigsten Wörter waren für uns Brot, Kartoffeln und Suppe.«

Als ihre Spielgefährtin Ruth mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert wurde, schworen sich die beiden Mädchen, sich später einmal gegenseitig zu besuchen. »Liebe Ruth, ich bin in Berlin, um dich zu besuchen«, rief Inge Auerbacher im Bundestag, den Tränen nah. Doch Ruth wurde in einer Gaskammer in Auschwitz ermordet. »Sie erlebte nicht einmal ihren zehnten Geburtstag.«

Gelbe Sterne bei Corona-Demonstrationen

Die Familie Auerbacher hingegen wurde 1945 in Theresienstadt von der Roten Armee befreit. 1946 wanderte sie nach New York aus, wo Inge Auerbacher jahrelang mit Krankheiten als Folge des Lagers kämpfte. Sie ging doch noch zur Schule, studierte und arbeitete jahrzehntelang als Chemikerin.

Nur eine politische Botschaft verband die Holocaust-Überlebende mit ihrer Geschichte: den Einsatz gegen Hass und Antisemitismus. »Leider ist dieser Krebs wieder erwacht, und Judenhass ist in vielen Ländern der Welt, auch in Deutschland, wieder alltäglich«, sagte Auerbacher. »Diese Krankheit muss so schnell wie möglich geheilt werden.«

Viele ihrer Zuhörer im Bundestag wissen, dass dies ein wunder Punkt ist in dieser Zeit. Gelbe Sterne bei Corona-Demonstrationen, Verschwörungserzählungen in der Pandemie, alltägliche Anfeindungen gegen Juden. Der israelische Parlamentspräsident Mickey Levy ging auf den historischen Ort im Reichstagsgebäude ein. Hier könne man eine Ahnung davon bekommen, wie Menschen Demokratie ausnutzen könnten, um sie zu überwinden, sagte Levy. »Dies ist der Ort, wo die Menschheit die Grenzen des Bösen gedehnt hat, ein Ort, wo Werteverlust einen demokratischen Rahmen in eine rassistische und diskriminierende Tyrannei verwandelt hat«, erklärte er. »Und nun erfahren wir hier, in den Mauern dieses Hauses wieder die Zerbrechlichkeit der Demokratie, und wir werden wieder an die Pflicht erinnert, sie zu schützendpa/nd

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