»Von langer Hand vorbereitet«

Der IS-Angriff auf ein Gefängnis in Rojava erfolgte mit Unterstützung der syrischen Regierung und der Türkei, meint der Aktivist Şahîn Çotkar

  • Tim Krüger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) hat ein Gefängnis in Hasakah in den kurdischen Selbstverwaltungsgebieten angegriffen, um 5000 Islamisten zu befreien. Wie haben Sie die letzten Tage erlebt?

Am Abend des 20. Januar griffen Kämpfer des IS das Sinaa-Gefängnis im Gweiran-Viertel Hasakahs an. Wir saßen gerade zusammen, als die Genossen hereinkamen, und es wurde mobilgemacht. Wir haben dann schnell unsere Munitionswesten, Waffen und das medizinische Equipment genommen und wurden direkt ins Viertel gebracht. Am Gefängnis bezogen wir Stellung und sind mitten in den Gefechten gelandet. Die Situation war unübersichtlich, es gab viele Verletzte. Erst am Morgen verstanden wir, dass der IS das Gefängnis erstürmt und die gefangenen Kämpfer bewaffnet hatte. Es wurden dann mehrere Sicherheitsringe um das Viertel gelegt und es kam zu schweren Gefechten. Der IS hatte sich im Viertel verschanzt. Erst am dritten Tag gelang es uns, einen Großteil der Häuser zurückzuerobern. Während die Gefechte andauerten, wurden im gesamten Stadtgebiet Operationen gegen Schläferzellen und Unterstützer der Islamisten durchgeführt, zahlreiche Mitglieder der Terrormiliz wurden festgenommen oder getötet.

Interview
Şahîn Çotkar, 26, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Projekt Rojava und dem Demokratischen Konföderalismus. Vor einem Jahr reiste er als Internationalist in die selbstverwalteten Gebiete und arbeitet als Aktivist der »Revolutionären Jugendbewegung Syriens«. Als Teil einer jugendlichen Selbstschutzeinheit war er beteiligt an den Kämpfen zwischen den Demokratischen Kräften Syriens und Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates (IS) in der vergangenen Woche im nordsyrischen Hasakah. Für »nd« sprach Tim Krüger mit ihm.

Wie viele Islamisten konnten entkommen? Es wird berichtet, einige hätten sich ergeben. Können Sie das bestätigen?

Ich habe nicht mitbekommen, dass sich Kämpfer ergeben haben. Die haben bis zum Äußersten gekämpft. Bei vielen der Getöteten haben wir später Sprenggürtel sichergestellt. Ich selbst habe aber immer wieder mitgekriegt, dass vereinzelt Verletzte aufgegriffen und lebendig festgenommen werden konnten. Wie viele genau entflohen sind, kann ich schwer sagen. Definitiv waren mehrere Hundert in die Kämpfe involviert.

Sie sagen, die Islamisten hätten sich in das Viertel zurückgezogen. Was hat das für die Zivilbevölkerung bedeutet und wie ist die Bilanz der Zerstörung?

Wo es ging, wurde die Bevölkerung evakuiert. Viele haben sich in die angrenzenden Gebiete des syrischen Regimes zurückgezogen oder sich in die selbstverwalteten Gebiete gerettet. Dort wurden Hallen und Gemeinschaftsküchen eingerichtet. Es sind sehr viele Gebäude zerstört oder durch den Einsatz von schweren Waffen und Luftangriffen der Internationalen Koalition stark beschädigt worden. Auch die Autobomben haben schwere Schäden hinterlassen, herumfliegende Kugeln haben das Stromnetz zerstört.

Die Selbstverwaltung beschuldigt die Türkei, den Angriff unterstützt zu haben. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?

Der Angriff wurde von langer Hand vorbereitet. Festgenommene Kämpfer haben in ersten Verhören ausgesagt, dass der Angriff durch die direkte Unterstützung des türkischen und des syrischen Regimes ermöglicht wurde. In der vergangenen Zeit gab es intensive Geheimdienst-Kommunikation zwischen Damaskus und Ankara. Beide haben ein Interesse, die Selbstverwaltung zu destabilisieren. Ohne diese Hilfe wären die gar nicht an Waffen und Material herangekommen. Ein solcher Angriff bedarf eines großen finanziellen Budgets, Vorbereitung, Aufklärung und professionellen Trainings. Bezeichnenderweise bombardierte die Türkei zur gleichen Zeit die Front von Til Temir.

Ist der Angriff auch Zeichen eines Wiedererstarkens des IS?

Der IS wurde militärisch geschlagen, doch ist er weiterhin verankert und erhält finanzielle Unterstützung. Die Angriffe der Türkei, die Bewegungen des syrischen Regimes und die gesteigerten Aktivitäten des IS im Irak zeigen, dass dahinter ein größerer Plan steckt. Sie greifen sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum an. Gleichzeitig mordet die Türkei mit Drohnenangriffen und Artillerie an der Front und im Hinterland. Es geht darum, das politische Projekt der Selbstverwaltung im Keime zu ersticken. Der IS macht dabei nur die Drecksarbeit für Andere.

Was muss passieren, um einen erneuten Vormarsch des IS zu verhindern?

Ein erster Schritt wäre die politische Anerkennung der Selbstverwaltung durch die europäischen Staaten und die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen auf Augenhöhe. Den IS hat nicht die Internationale Koalition geschlagen, sondern der Zusammenschluss der kurdischen, arabischen und assyrischen Bevölkerung unter der Selbstverwaltung. Der IS kann nur erstarken, weil die Staaten ihre Interessenkämpfe auf dem Rücken der Bevölkerung Nordostsyriens austragen. Die europäischen Staaten weigern sich, ihre Bürger zurückzunehmen und einer gerechten Strafe zuzuführen. Sie erkennen nicht an, dass hier ein Genozid verübt wurde, an dem auch ihre Staatsbürger beteiligt waren. Ein dritter Punkt ist die finanzielle Unterstützung. Dabei finanziert nicht nur die Türkei islamistische Kräfte, sondern auch Katar und Saudi-Arabien. Deren finanzielle Mittel müssen eingefroren, Waffenexporte in diese Länder gestoppt werden. Die Waffen, die am Ende hier in die Hände der Islamisten geraten, sind zu einem Großteil Nato-Waffen. Wenn die Staaten, aus denen wir kommen, ihre Finger nicht im Spiel hätten, dann wäre ein Erstarken des IS gar nicht denkbar.

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