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- »DAFUQ« von Kira Jarmysch
Nebenbei politisch
»DAFUQ« von Kira Jarmysch ist ein lesenswertes Buch, das einen interessanten Einblick aus ungewohnter Perspektive in die russische Gegenwart ermöglicht
Anja wird in Moskau auf einer Demonstration gegen Korruption festgenommen und muss für neun Tage in Arrest. In ihrer Zelle, die sie sich mit fünf weiteren Frauen teilt, ist sie die einzige »Politische«. Zum Duschen dürfen die Frauen einmal in der Woche, jeden Tag dürfen sie für 15 Minuten ihr Smartphone benutzen und eine Stunde im engen Hof spazieren gehen, den ganzen Tag läuft ein nerviges Radio, aber zu Anjas Überraschung ist immerhin das Essen erstaunlich genießbar.
Kira Jarmysch, die selbst schon auf einer Demonstration verhaftet wurde, beschreibt in ihrem Debütroman »DAFUQ« den Gefängnisalltag und die Gespräche der zufällig zusammengewürfelten Zellengenossinnen, die verschiedene Lebensentwürfe von Frauen im heutigen Russland repräsentieren. »DAFUQ« gehört zu den leider sehr wenigen Romanen jüngerer russischer Autorinnen, die ins Deutsche übersetzt werden. Dass Kira Jarmyschs Buch es in der Übersetzung von Olaf Kühl auf den deutschsprachigen Buchmarkt geschafft hat, könnte damit zu tun haben, dass sie nicht bloß Autorin, sondern auch seit 2014 die Pressesprecherin von Alexej Nawalny ist.
Aber Jarmysch hat zum Glück kein plakatives politisches Manifest in Romanform geschrieben, sondern eine ungewöhnliche und unterhaltsame Geschichte, die ganz nebenbei politisch ist. Große Themen wie Korruption und unrechtmäßige Gerichtsurteile, aber auch sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Homosexuelle werden in »DAFUQ« auf elegante Weise unauffällig in den Text gewebt, während es vordergründig nur darum geht, wie Anja und ihre Mitinsassinnen die Zeit bis zur Entlassung totschlagen.
Anja hat das Gefühl, dass sie eigentlich nicht hierhergehört. Dass sie - mit Universitätsabschluss und aus gutem Hause - nur zufällig hier gelandet ist, während die anderen Frauen in der Zelle aus einer anderen Welt zu kommen scheinen, die geprägt ist von Alkoholismus, Straflager, Gewalt und Prostitution. Die verschiedenen Vorgeschichten und Hintergründe der Frauen werden in ihren Gesprächen angedeutet, aber Anja bleiben sie fremd.
Leider hat Jarmysch die Figuren der Mitgefangenen zudem eher oberflächlich entworfen. Anders als Anja sind sie nicht als komplexe Charaktere gestaltet, sondern eher als leicht klischeehafte Repräsentantinnen verschiedener Schicksale. Am eindrücklichsten beschrieben ist ausgerechnet Maja, die klischeehafteste Figur. Sie investiert beständig in die Optimierung ihres Körpers, um sich von reichen Männern ein Luxusleben finanzieren zu lassen, und sagt Dinge wie: »Ich will demnächst nach Bali fahren, dort haben sie gute Detox-Programme.« Oder: »Ich habe mir gerade erst die Brust machen lassen, das verdirbt mir die ganze Figur!«
Dass auch Diana, ein schwarzes Plus-Size-Model, in der Zelle sitzt, bringt immerhin ein klein wenig der überfälligen Diversity in die russische Literatur, in der sehr selten People of Color vorkommen. Allerdings wirkt das hier etwas bemüht, zumal Jarmyschs Erzählerin zu Diana wenig mehr einfällt als die grenzwertige Bemerkung, dass sie »mit ihrer dunklen Haut und der Wolke schwarzer Haare« in ihrem Pulli mit Leopardenmuster »sehr ethnisch« aussieht.
Mit Anja ist Jarmysch hingegen eine überzeugende und vielschichtige Figur gelungen. Sie ist nicht als Idealbild einer oppositionellen Kämpferin für Gerechtigkeit gezeichnet, sondern als Mensch mit Schwächen und Ambivalenzen. Sie ist klug und unangepasst, aber auch egozentrisch und voller Selbstmitleid.
Die zahlreichen Rückblicke auf ihr Leben vor der Verhaftung sind durchweg interessant und unterhaltsam: In ihrer Schulzeit beginnt Anja, Heterosexualität und Geschlechterrollen zu hinterfragen, bei einem Praktikum im Außenministerium hat sie die zweifelhafte Ehre, sich auf derselben Couch niederzulassen, auf der schon Margaret Thatcher saß, und während ihres Studiums gerät sie in eine schmerzhafte Dreiecksbeziehung, die sich zu einem uniweiten Skandal ausweitet.
Anjas Politisierung geschah eher zufällig, weniger aus innerem Antrieb und Gerechtigkeitsempfinden. Als sich die Zelleninsassinnen über den Grund für Anjas Verhaftung, die Demonstration, unterhalten, äußern sie die vorhersehbaren Gründe, nicht zu protestieren. Eine der Frauen meint, dass das Leben in Russland noch nie so gut gewesen sei wie heute und man dankbar sein müsse. Eine andere kann Anjas oppositionelle Haltung nachvollziehen: »Meine Mutter hat das ganze Leben als Lehrerin gearbeitet, jetzt kriegt sie ein paar Kopeken als Rente. Und die da oben stopfen sich die Taschen voll.« Aber wählen geht sie trotzdem nicht und protestieren schon gar nicht, denn: »Ändert ja sowieso nichts, also wozu.«
Maja dagegen gefällt Putin: »Er ist ein so starker Führer. Alle haben jetzt Respekt vor uns …« Sie kann es sich sogar vorstellen, selbst in die Politik zu gehen, denn mit dem Gedanken an Macht kann sie sich anfreunden: »Ich würde mir dann die Richterin greifen, die mich hier reingebracht hat, und die auch in den Knast stecken!« Und als Anjas Vater zu Besuch kommt, gibt er ihr auch den passenden Ratschlag mit auf den Weg: »In dieser Welt siegt, wer flexibel ist. Derjenige, der sich anpassen kann.«
Einen unerwarteten Mitstreiter findet Anja dann schließlich in einem jungen Polizisten, der sie zum Gerichtstermin fährt. Er schimpft über Politiker, die lügen und stehlen, und über Gerichtsurteile, die schon vor der Verhandlung feststehen. Er will vielleicht auch bald demonstrieren gehen, sagt er zu Anja. Doch dann fügt er hinzu: »In Russland gab es nur einen einzigen normalen Herrscher. Unter ihm herrschte Ordnung. Und es gab keinen Diebstahl.« Er meint Stalin.
Kira Jarmysch spitzt hier geschickt verschiedene politische Positionen zu, die in der russischen Bevölkerung verbreitet sind. Sie vermeidet es dabei, Protestierende und Oppositionelle wie Nawalny und seine Anhänger*innen zu romantisieren. Sie zeigt, dass es zwar gute Gründe gäbe, um zu protestieren, dass aber wenig Hoffnung auf eine breite Protestbewegung und auf reale Veränderungen besteht. Diese realistische Herangehensweise zählt zu den Stärken des Romans.
Doch auch an Schwächen fehlt es bei »DAFUQ« nicht. Im Original heißt der Roman übrigens - etwas weniger bemüht cool - »Die unglaublichen Vorfälle in der Frauenzelle Nr. 3«. Dieser Titel verweist auf den am wenigsten überzeugenden Aspekt des Romans. Denn in die realistische Erzählung lässt Jarmysch tatsächlich »unglaubliche Vorfälle« einfließen, Elemente von Horror und Mythologie, die Anja in Träumen und Visionen begegnen. Das hat keinen Mehrwert für das Buch, sondern schadet ihm, da man die realistisch geschilderten Szenen so weniger ernst nehmen kann. Die Charaktere und Vorgeschichten von Anjas Mitinsassinnen etwas mehr auszuarbeiten, wäre dem Roman besser bekommen als dieses unnötige Abrutschen ins Fantastische.
»DAFUQ« ist dennoch ein lesenswertes Buch, das einen interessanten Einblick in die russische Gegenwart aus ungewohnter Perspektive ermöglicht. Aber man wird das Gefühl nicht los, dass man mehr daraus hätte machen können.
Kira Jarmysch: »DAFUQ«. Rowohlt. 416 S, geb., 22 €.
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