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Konflikt mit starkem Ungleichgewicht
Ein Plädoyer des Welttrends-Instituts für eine verantwortungsbewusste deutsche Sicherheitspolitik im Dienste des Friedens
Auf zeit.de wurde am 14. Januar der Brief einer Reihe von »Experten« für Osteuropa und Sicherheitspolitik mit der Forderung publiziert, Deutschland solle eine aggressivere Politik gegenüber Russland betreiben, die deutlich über die bisherigen EU-Wirtschaftssanktionen hinausgeht. Die Unterzeichner fordern zu einer Eiszeit, zu einem neuen Kalten Krieg auf, zu wirtschaftlicher Erpressung, einer auf Stärke orientierten Konfrontationspolitik Deutschlands gegenüber Russland, zum Anheizen des Ukraine-Konflikts und zur fortgesetzten Erweiterung der Nato bis direkt an die Grenzen Russlands. Diplomatische Mittel zur friedlichen Beilegung von Konflikten und der gegenseitigen Vertrauensbildung werden als »lediglich verbale oder symbolische Reaktionen Berlins« denunziert, die »den Kreml nur zu weiteren Eskapaden verleiten«.
Da in jenem Brief teils von Falschaussagen, teils von Halbwahrheiten und verkürzten Interpretationen von Sachverhalten ausgegangen wird, ist es angezeigt, darauf im Sinne der Erhaltung des Friedens und der friedlichen Koexistenz zu antworten.
Das in Potsdam ansässige Welttrends-Institut für Internationale Politik hat dieser Tage eine Erklärung zu den aktuellen Zuspitzungen im Verhältnis zwischen Nato und USA einerseits und Russland andererseits veröffentlicht. Wir dokumentieren den Text, der an die Verantwortung der deutschen Politik für eine Verständigung in dem Konflikt appelliert.
Zu den Unterzeichnern gehören zahlreiche Persönlichkeiten, die den nd-Lesern als Autoren politischer Analysen ein Begriff sind – unter anderem Erhard Crome, Lutz Kleinwächter, Raimund Krämer, Alexander Rahr, Wolfgang Schwarz, Hubert Thielicke, Raina Zimmering, Norman Paech, Werner Ruf, John Neelsen, Michael Brie, Werner Rügemer, Achim Wahl, Reiner Braun und Dieter Segert.
Zum Weiterlesen: welttrends.de
Negation russischer Interessen
Es ist eine leicht überprüfbare Tatsache, dass die Zusicherung einer Nicht- Erweiterung der Nato nach Osten im Jahre 1990 Teil der Gesamtvereinbarungen zur Beendigung des Kalten Krieges war, nachzulesen etwa in einer aktuellen Untersuchung aus dem Bereich Politische Wissenschaften der University of California, Los Angeles.
Nach der »Charta von Paris« (1990) ist eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands nicht entstanden, weil die USA bereits unter der Bush-Senior-Administration (1989-1993) und in der Folgezeit mit Gefolgschaft des Westens respektive der Nato einen anderen Weg einschlugen. Die Sicherheitslage nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich verschlechtert. Das ergibt sich erstens aus den militärischen Ungleichgewichten, zweitens dem beständigen Vorrücken der Nato in Richtung russischer Grenze und drittens der Aufkündigung internationaler Sicherheitsabkommen.
Die Fakten zu den militärischen Ungleichgewichten sprechen eine klare Sprache. Die weltweiten Rüstungsausgaben betrugen nach den Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri im Jahre 2020 1830 Milliarden US-Dollar. An der Spitze die USA mit 738 Milliarden US-Dollar (das sind 40 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben); sie liegen fast viermal höher als die Chinas (193,3 Milliarden US-Dollar) und zwölf Mal höher als die Russlands (60,6 Milliarden US-Dollar).
Rechnet man zu den Militärausgaben der Nato die wichtiger Verbündeter, wie Australien, Japan und Südkorea, hinzu, entfallen zwei Drittel der globalen Militärausgaben auf »den Westen«. Unter den europäischen Nato-Staaten lag Großbritannien mit 61,5 Milliarden US-Dollar an der Spitze, gefolgt von Frankreich mit 55 Milliarden US-Dollar und Deutschland mit 51,3 Milliarden US-Dollar. Damit geben diese drei Staaten zusammen ebenfalls fast dreimal so viel für das Militär aus wie Russland.
Was die strategischen Atomwaffen anbetrifft, gab es 2020 auf der Welt 13.400 Sprengköpfe (ebenfalls laut Sipri), darunter Russland mit 6375 und die USA mit 5800. Darüber hinaus verfügt China über 320 nukleare Waffensysteme, Frankreich über 290, Großbritannien über 215. Die fünf laut Atomwaffensperrvertrag »offiziellen« Atommächte haben am 3. Januar 2022 eine Gemeinsame Erklärung abgegeben, wonach sie die Vermeidung eines Atomkrieges als ihre wichtigste Aufgabe ansehen, im Wortlaut: »Wir bekräftigen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf.« Insofern ist es unredlich, jetzt über russische Atomwaffen zu spekulieren, ohne über die der Nato zu reden.
Im konventionellen Bereich sieht das Bild so aus: aktives Militärpersonal in der Nato 3,2 Millionen Menschen, darunter allein die USA 1,8 Millionen. Russland 900.000. Flugzeugträger: Nato 16, darunter die USA 11; Russland 1. Kampfflugzeuge und Bodenkampfflugzeuge: Nato 5043, darunter die USA 3002; Russland 711. Luftüberwachungsflugzeuge: Nato 134, darunter die USA 111; Russland 18. Angriffshubschrauber: Nato 1290, darunter die USA 862; Russland 414. Kampfpanzer: Nato 9042, darunter die USA 2509; Russland 3.300. Artillerie: Nato 26.271, darunter die USA 6941; Russland 5754. Wer also hätte eher Grund, um seine Sicherheit zu fürchten - Russland oder der Westen?
Zum Vorrücken der Nato gehörten der völkerrechtswidrige Krieg gegen Serbien, die Separation des Kosovo, die Nato-Osterweiterungen und die Ratifizierungsverweigerung des modifizierten KSE-Vertrages (über konventionelle Streitkräfte in Europa) durch die Nato-Staaten. Auch nach Wladimir Putins mahnender Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 gab es kein Einhalten: 2008 wurde der Ukraine und Georgien offiziell ein Nato-Beitritt offeriert; Georgien fühlte sich 2008 zum Krieg ermuntert.
Der ABM-Vertrag (zur Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme) wurde 2002 durch die USA einseitig gekündigt. In Osteuropa wurden Raketenabwehrsysteme errichtet, die auch zu Offensivoperationen fähig sind. Hinzu kommen die Aufkündigung des INF-Vertrages (zur Beseitigung atomarer Mittelstreckensysteme, 1987) durch die USA ebenso wie die Kündigung des »Open Sky«-Vertrages, auch durch die USA.
Erst mit dem von den USA und einigen ihrer Verbündeten massiv unterstützten prowestlichen Staatsstreich in Kiew 2014 sah sich Russland veranlasst, seine Zurückhaltung schließlich aufzugeben. Die realen Fakten hatten objektiv zu einer neuen Bedrohungslage für Russland geführt und ehemals bestehendes gegenseitiges Vertrauen zerstört.
Gernot Erler (SPD), damals Koordinator für die Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft im Auswärtigen Amt, betonte bereits 2017: Die Krise »ist auf den ersten Blick vom Ukraine-Konflikt ausgegangen, häufig ist die Rede von der Verletzung der europäischen Friedensordnung, also der vereinbarten Regeln und Prinzipien von Helsinki und Paris«. Die Frage aber sei, »warum wird keine politische Lösung gefunden? Die Krise hat offenbar Wurzeln, die tiefer liegen. Immer mehr schält sich heraus, dass der Konflikt nicht Anlass, sondern Produkt eines schon länger währenden Prozesses von Vertrauensverlust und Entfremdung ist.«
Alternativen sind möglich
Die Zuspitzung der Konflikte zwischen der Nato und Russland, in deren Zentrum gegenwärtig der Ukraine-Konflikt steht, kann nur durch eine Stärkung der Sicherheitsgarantien für alle beteiligten Staaten und der Vertrauensbildung zwischen der Nato und ihren Partnern, der Ukraine und Russland sowie allen anderen europäischen Staaten liegen. Dabei müssen sowohl internationale Gesprächs- und Vertragsformate als auch zwischenstaatliche vertrauensbildende Maßnahmen reaktiviert oder neu hergestellt werden.
Deutschland kann in dieser Situation angesichts seiner geografischen Lage und politisch-militärischen Stellung innerhalb der EU und Nato eine wichtige Rolle spielen. Es muss sich entscheiden zwischen einem Konfliktverstärker auf der einen und einem Konfliktentspanner auf der anderen Seite.
Forderungen, Deutschland solle seine Außenpolitik stärker gegen Russland ausrichten, zielen darauf, es weiter der US-Politik unterzuordnen. Der »Westen/Europa-Russland-Konflikt« war stets ein Konflikt USA-Russland. Europäische Sicherheitsstrukturen waren nach 1945 vor allem Ergebnis eines sicherheitspolitischen Kräftegleichgewichts zwischen der Sowjetunion und den USA. Dieses Gleichgewicht war mit Auflösung der UdSSR sowie des Warschauer Vertrages nicht mehr gegeben.
Die USA setzten jedoch entgegen den sowjetischen, dann russischen Erwartungen ihre alte Containment-Politik fort und beließen Streitkräfte und Atomwaffen in Europa/Deutschland. Sie festigten das System der eingeschränkten Souveränität Westeuropas, integrierten eine Reihe osteuropäischer Staaten in ihre Vorfeldorganisation und nutzten diesen Zuwachs bis zur Verlegung von Streitkräften an die russischen Grenzen. Der Stützpunktaufbau im Baltikum, in Polen, Georgien, der Ukraine und demnächst der Slowakei unterstreicht dies.
Insofern ist der Konflikt Nato/Westeuropa/Ukraine - Russland aus russischer Sicht kein separater Konflikt, sondern im Kern der Konflikt mit den USA. Diesen auszuräumen schickt sich Russland an. Das geht nur mit einem Rückzug der USA von den russischen Grenzen (oder durch die Stationierung von Raketen vor Washingtons Haustür). Die USA (Präsident Biden und Außenminister Blinken) scheinen das durchaus verstanden zu haben, sonst würden sie nicht verschiedene Verhandlungsformate wieder eröffnen, die ja nicht Russland geschlossen hatte. Direkte Verhandlungen zwischen Russland und den USA bleiben der Kern zur Lösung der Probleme.
Für ein angemessenes Augenmaß im Verhältnis zu Russland nach der deutschen Vereinigung plädierte Egon Bahr bereits in den 1990er Jahren: Gesamteuropa sei größer, als die Europäische Union je werden könne, deshalb verlangt Stabilität für dieses große Europa »die Einbeziehung Russlands und der Republiken, die früher Teile der Sowjetunion gewesen sind, soweit diese das wollen. Nicht ohne oder gegen Russland, nicht ohne oder gegen Amerika ist die gesamteuropäische Stabilität zu erreichen.«
Dabei verwies Bahr auf eine grundlegende Differenz in den Interessen Deutschlands und der USA: »Vielleicht mag man in Amerika glauben, Vorteile aus der fortdauernden inneren und äußeren Schwächung Russlands zu gewinnen, solange nur das Chaos vermieden wird und der atomare Faktor kontrollierbar bleibt.« Für Deutschland und die EU dagegen sei »ein Russland vorzuziehen, das sich konsolidiert«. Westliche Konfrontationspolitik gegen Russland liegt also eher im Interesse der USA und des Bestrebens, das westliche Europa unter Kontrolle der USA zu halten, als im deutschen und europäischen Interesse.
Wir fordern daher von der neuen deutschen Bundesregierung eine Rückbesinnung auf die Eckpfeiler der Friedenspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr. Sicherheit für Deutschland und die EU ist nur möglich gemeinsam mit Russland. Das erfordert Gleichheit und Gleichberechtigung, wie in der Charta der Vereinten Nationen, in der Schlussakte von Helsinki, in der Charta von Paris und in der Nato-Russland-Grundakte völkerrechtlich festgeschrieben. Auf diesen Grundlagen gilt es tatsächlich mehr Verantwortung für Frieden und Sicherheit zu übernehmen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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