- Kultur
- »Der hingestreckte Sommer« von Gisela von Wysocki
Zeugen ungereimter Verhältnisse
Oberflächliches, Randständiges und Unbeachtetes: Mit »Der hingestreckte Sommer« legt Gisela von Wysocki eine autobiografische Prosasammlung vor
Die Texte von Gisela von Wysocki machen einen taumeln. Wie und was geschieht mir, so fragend tastet man sich voran in unwägbares Gelände, in das einen die Worte führen. Das ist schroff entgegengesetzt all der Literatur, die schon mit Gebrauchsanweisung ausgeliefert wird. Hier wird man lesend gefordert, und wer sich dem hingibt, wird auch beschenkt.
Fast 50 verschiedene Prosatexte hat von Wysocki in ihrem im Suhrkamp-Verlag neu erschienenen Band »Der hingestreckte Sommer« versammelt. Es sind kunstvolle Miniaturen, die vom Abhub der Erscheinungswelt berichten, von Oberflächen wie der Mode oder vom Randständigen und Unbeachteten. Wie bei Odradek, einer der rätselhaftesten Figuren Franz Kafkas, wird die Dingwelt beseelt, weil sie das Empfinden des Subjekts spiegelt und prägt. Kann es überhaupt Erfahrung geben ohne dieses projektive, fast magische Moment, das noch aus frühesten Kindheitstagen stammt? Man liest von Wysocki und mag antworten: vermutlich nicht.
Die Welt wird Rätsel und die leidenschaftlichen Rätsellöser in der Kunst und im Leben, das sind wir. Der »Rätselcharakter« ist einer der wichtigsten Begriffe im Kunstverständnis von Theodor W. Adorno. Die Schriftstellerin von Wysocki, 1940 geboren, hat bei Adorno in Frankfurt am Main studiert, bei dem Menschen, dessen faszinierende Stimme sie als Jugendliche am Radioapparat wie gebannt folgt, wie sie es in ihrem 2016 veröffentlichten Roman »Wiesengrund« beschrieben hat. Eine Erfahrung fürs Leben? In »Der hingestreckte Sommer« beschreibt sie es als ein »großes Scheitern«. Doch das lässt ihr keine Ruhe. Ist es der Versuch der Wiedergutmachung? Wiederholungszwang? Wo man scheitert, ist man nicht fertig, will es noch einmal versuchen, der Unmöglichkeit trotzen. Und speist sich nicht alle Lust mehr aus dem gescheiterten Versuch der Befriedigung als aus der Illusion ihrer Erfüllung?
Es beginnt in der Kindheit, wie bereits der große Rätselphilosoph Walter Benjamin wusste. Von seiner »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« führt eine Spur bis zu »Der hingestreckte Sommer«, die Spur des kindlichen Blicks, der die fremde Welt der Erwachsenen zu durchdringen sucht. Der ist nicht unschuldig, wie es die kitschige Fantasie will, und die Welt auch nicht »noch in Ordnung«. Im Gegenteil: Die Wahrnehmung für das Brüchige, Rissige, Widersprüchliche und Traumatische der Wirklichkeit ist gesteigert, Nachhall der traumatischen Konfrontation mit dem sexuell Unbewussten der Erwachsenen (das Enigma, wie es der Psychoanalytiker Jean Laplanche genannt hat). Der tastende Charakter der Texte von Wysockis rührt wohl noch aus dieser Sphäre her. Es ist die erstaunliche Fähigkeit, diese Wunde nicht nach herrschender Sitte im Laufe des Lebens schiefheilen gelassen, sondern bewusst offen gehalten zu haben.
Der kindlichen Erfahrung im Erwachsenenleben die Treue zu halten, ist nicht allen gestattet. Von Wysocki beschreibt, wie sie sich aus dem elterlichen Bücherschrank die Werke von Peter Altenberg greift (gerade jenen, der sich als Verführer junger Mädchen so gut gefiel). Sie ist gefesselt. In den 1970er Jahren schreibt sie ihre Dissertation über Altenberg, die Buchpublikation trägt den Titel »Bilder und Geschichten des befreiten Lebens«.
In »Der hingestreckte Sommer« sind es das Kinderspiel »Himmel und Hölle«, das die Protagonistin mit der Tochter eines Rotarmisten spielt, oder der Versuch, lesen zu lernen, wogegen sich die Wörter und Dinge selbst zu wehren scheinen: Bilder zwischen der »beredten, wortlosen Gleichzeitigkeit unseres Aufderweltseins« und dem Ringen mit der Sprache, die Spiegel einer rätselhaften Welt. Die Wörter sind »Zeugen ungereimter Verhältnisse«, schreibt von Wysocki. Das geht über die Kindheit hinaus, im eigenen Leben und der Familie zeigt sich eine Gesellschaftsgeschichte von der Nachkriegszeit bis heute.
Doch immer wieder kommt es auf die Sprache zurück. Die ruhelosen Wörter, so nennt von Wysocki sie, erlauben ihr, »bis auf Sichtweite ans Leben heranzukommen«. Sie haben ein Eigenleben, wollen irgendwo hin, ziehen einen oder treiben. Sind »selbst Getriebene«. Es liest sich wie Andeutungen einer psychoanalytischen Ethik des Schreibens.
Wer der Sprache Gewalt antut, wird bestraft - durch Verstummen. Eine Strafe, die auf einen selbst zurückfällt. Es ist zugleich ein Gegenbild zum Sound der Apparate und Verwaltungen, der funktional verstümmelten und auf kommunikative Signale zurechtgestutzten Sprache, die einen einzigen Verrat am eigenen Begehren darstellt. Den Wörtern also ihren Eigensinn lassen, und das auch dann, wenn sie die Schreibenden nicht in ein gutes Licht rücken, wie Gisela von Wysocki schreibt. »Sie wollen aussprechen, was ihnen ins Auge sticht.« Eine präzisere Vermessung der Welt der Sprache, fernab aller Moden des Literaturbetriebs, kann man sich derzeit kaum vorstellen.
Gisela von Wysocki: Der hingestreckte Sommer. Suhrkamp, 252 S., geb., 24 €.
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