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Gas - ein Geben und Nehmen

Ein Lieferstopp hätte gravierende Folgen - für Russland und Deutschland

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.

Auch jenseits militärischer Eskalationen nehmen die Spannungen zwischen Russland auf der einen Seite und der Ukraine, den USA, der Nato sowie der EU auf der anderen Seite zu. Russland ist ein global wichtiger Energielieferant, die Märkte sind ohnehin angespannt. Was, wenn der Gasfluss Richtung Westen ins Stocken gerät oder ganz versiegt?

Handelskommissar Valdis Dombrovskis erklärte zu Wochenbeginn im Namen der EU-Kommission, dass man die Pipeline Nord Stream 2 »auf Eis gelegt« gelegt habe. Man wolle das bereits seit September 2021 einsatzbereite Projekt zwischen Russland und Deutschland erst einmal auf seine Vereinbarkeit mit den langfristigen Dekarbonisierungszielen der EU überprüfen. Zudem, so erklärte der Lette, werde man alles unternehmen, damit Moskau Gas nicht als »Waffe« benutzen kann. Äußerungen wie diese haben im Westen gerade Konjunktur. Haben sie auch eine Berechtigung?

Alexej Borissowitsch Miller könnte die Frage sicher besser als viele andere beantworten. Der Sechzigjährige, dessen aktuelles Vermögen in der russischen Klatschpresse auf rund 200 Millionen Euro geschätzt wird, hat in Leningrad Ökonomie studiert, war Anfang des Jahrtausends Generaldirektor der Gesellschaft Baltisches Pipelinesystem, wurde Vizeminister für Energiewirtschaft der Russischen Föderation und ist heute der starke Mann im Staatskonzern Gazprom. Seine Firma, so Miller Ende Januar gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Tass, habe im vergangenen Jahr 514,8 Milliarden Kubikmeter Gas gefördert. Dies sei das beste Ergebnis seit 13 Jahren, es bedeutet ein Plus von 62,2 Milliarden Kubikmetern gegenüber 2020.

»Wir haben wie immer eine zuverlässige Gasversorgung der Verbraucher sichergestellt«, sagte Miller und unterschied dabei nicht zwischen in- und ausländischen Kunden. 257,8 Milliarden Kubikmeter Gas waren für den russischen Markt bestimmt. Über Grenzen lieferte man 185,1 Milliarden Kubikmeter. Das seien 5,8 Milliarden Kubikmeter mehr als 2020. Laut Miller haben 15 Länder ihre Importe angehoben, den größten Zuwachs hätten die Großabnehmer Deutschland (plus 10,5 Prozent), die Türkei (plus 63 Prozent) und Italien (plus 20,3 Prozent) zu verzeichnen. Millers Fazit: »Für 2021 erwarten wir das beste Finanzergebnis der gesamten Gazprom-Geschichte.« Die Dividenden erreichen einen Rekordwert.

Was haben normale Haushalte in Moskau oder Berlin davon? Hier wie dort gehen die Energiepreise durch die Decke. Gas ist nicht nur teuer, sondern auch knapp. Die Füllstände der deutschen Gasspeicher sind so niedrig wie noch nie. 2020 lagen sie im Vergleichszeitraum bei über 90 Prozent, aktuell liegen sie bei knapp 37 Prozent, teilte Sebastian Bleschke, Geschäftsführer des Branchenverbands für Gas- und Wasserstoffspeicher »Initiative Energien Speichern« , vor einigen Tagen mit. Das bietet Anlass zu Befürchtungen.

Dem Verband zufolge könnten die dafür geeigneten Hohlräume derzeit maximal 255 Terawattstunden Erdgas fassen. Das ist ein Viertel der gesamten EU-Gasspeicherkapazität. Es gibt in Deutschland 47 solcher Reservoirs. Sie werden von 25 Firmen betrieben. Zu denen, die den Rohstoff in Deutschland speichern, gehört Gazprom. Über eine Tochtergesellschaft unterhält der Gaslieferant zwei Speicher, darunter den bundesweit größten im niedersächsischen Rehden. Doch auch er ist wie fast alle Speicher ziemlich leer. Warum?

Experten sagen, noch im April 2021 sei es ziemlich kalt gewesen in Deutschland. Die Speicher mussten mehr hergeben als gewöhnlich. Im Sommer hätte man die Vorräte auffüllen können. Doch die Preise waren extrem hoch. Wer beim Kauf spekulierend abgewartet hat, fiel rein. Im vergangenen Dezember erreichte der sogenannte TTF-Gaspreis ein Rekordhoch: 185 Euro pro Megawattstunde. Der 2021er Durchschnittspreis lag bei 47,38 Euro/MWh. 2019 bekam man dieselbe Menge für 14,55 Euro. Die »Ukraine-Krise« belastete den Markt zusätzlich. Dann zeigte sich auch noch, dass EU-Europa in Russlands strategischer Orientierung keineswegs auf Platz eins steht. Miller bestätigte, dass die Gasexporte durch die Pipeline »Power of Siberia« hochgefahren werden.

»Power of Siberia« ist 2200 Kilometer lang und endet in China. Das Land mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern hat einen gigantischen Bedarf. Auch die Pipeline, die russisches Gas in die Türkei befördert, wird ausgebaut. So bietet sich für Russland in viele Richtungen die Chance für eine strategische Neuorientierung. Merke: Nicht nur die EU versucht, sich von russischem Gas weitgehend unabhängig zu machen, auch Russland will sich langfristig von seiner Rolle als Europas Hoflieferant verabschieden.

Woher kommt das Gas, das aktuell in Deutschland gebraucht wird? Fünf Prozent sind Eigenanteil, kann man bei der Bundesnetzagentur und dem Bundeskartellamt erfahren, wo man bestätigt, dass gut zwei Drittel des importierten Gases aus Russland stammen. Weitere 20 Prozent werden in Norwegen gekauft, knapp zwölf Prozent in den Niederlanden, wo der Energieriese Wintershall gemeinsam mit Gazprom Gas fördert. An den Verhältnissen wird sich kurzfristig kaum etwas ändern lassen. Norwegen fördert am Anschlag, die Niederlande ebenso und selbst wenn man die wenigen freien Kapazitäten Großbritanniens addiert, lässt sich die russische Lieferung nicht spürbar reduzieren.

Sollte der Konflikt um die Ostukraine eskalieren, könnten beide Seiten den Gasfluss aus Russland nach Deutschland bedrohen. Wer würde dann »einen hohen Preis« zahlen? Würden die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und andere Sanktionspolitiker ein wenig weiterdenken, dann wüssten sie: Nicht nur Russland würde zum finanziellen und sozialen Aderlass gezwungen.

Natürlich wäre die Kappung der wichtigsten Valuta-Einnahmequelle für Moskau hart. Gazprom erwirtschaftete 2020 rund 1,8 Milliarden US-Dollar Gewinn. Der russische Staat hält 50 Prozent und eine Aktie an dem Unternehmen. Wenn der Börsenkurs sinkt, würde das auf viele Wirtschaftsbereiche - auch auf die Rüstung - durchschlagen. Sozial wäre die Wirkung verheerend, Gazprom ist mit über 473 000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber im Riesenreich.

Dass Russland den Gashahn zudreht, erwarten auch im Westen nur eingefleischte Ideologen. Wirtschaftsanalysten gehen mehrheitlich davon aus, dass das Land seinen Exportverpflichtungen im Einklang mit bestehenden Gasverträgen nachkommt. So wie es in der Vergangenheit fast immer war. Wer nicht dieser Ansicht ist, verweist gern auf Lieferausfälle im Januar 2009. Einige östliche EU-Staaten gerieten damals in arge Energienöte, weshalb auch Deutschland die normalerweise von Ost nach West verlaufenden Fließrichtung des Gases umkehrte. Diese Möglichkeit bewährte sich auch Ende 2021, als man so Erdgas aus deutschen Speichern in die Ukraine pumpte.

Auch wenn es von russischer Seite keinen Lieferstopp geben wird: Klar dürfte sein, dass Moskau sein Interesse an Einnahmenmaximierung durchsetzt. Das zeigte sich im Herbst 2021, als Russland keinen Grund sah, mehr als die vereinbarten Mengen Erdgas nach Europa zu liefern, um zum Sinken der Preise beizutragen. So funktioniert Kapitalismus.

Könnten die EU und vor allem Deutschland ein Interesse daran haben, den Erdgaszufluss zu stoppen? Nein. Erdgas hat einen Anteil von über einem Viertel am deutschen Primärenergieverbrauch. Die deutsche Industrie ist mit rund 35 Prozent der größte Erdgas-Verbraucher. Besonders energieintensive Branchen wie die Aluminium- und Düngemittelindustrie haben bereits jetzt mit hohen Preisen zu kämpfen.

Für Italiens Industrie käme ein Lieferstopp sogar einem Fiasko gleicht. Das erklärt, warum Italiens Ministerpräsident Mario Draghi bereits im November mit Russlands Präsident Wladimir Putin dringend »über die Lage in Belarus« reden wollte. Putin versicherte dabei einmal mehr sein Interesse an einer langfristigen und unterbrechungsfreien Versorgung Europas - »auch unter Nutzung der Möglichkeiten der Pipeline Nord Stream 2«.

Wer auch immer den Energiefluss aus Russland hemmen oder unterbrechen will - er muss sich nach Alternativen umsehen. Normalerweise gibt es drei. Erstens: Speicher anzapfen. Das ist bei den aktuellen Füllständen eine Illusion. Zweitens: Andere Bezugsquellen auftun, die durch Pipelines liefern können. Mangels Masse ebenso absurd. Bleibt drittens der Kauf von verflüssigtem Erdgas. Hier sind die USA neben Australien der größte Exporteur von Liquefied Natural Gas. LNG wird per Tankschiff geliefert. Nicht erst die Biden-Regierung fördert massiv Ambitionen im europäischen Gasgeschäft. Gas als Waffe? Aber, aber, doch nicht unter Freunden …

Angeblich sind in den vergangenen Wochen in den USA mehr Tanker als üblich Richtung Europa aufgebrochen. In Deutschland werden sie nicht anlanden, hier gibt es keine entsprechenden Terminals. Selbst wenn alle LNG-Importterminals in Westeuropa auf Hochtouren liefen, könnten sie die russischen Importe nicht ersetzen.

Ein Umstieg auf Flüssiggas - auch Russland erhöht sein LNG-Angebot - würde überdies zu einem weiteren Preisanstieg führen. Weltweit. Schon weil die EU dabei mit Verbrauchern in Südkorea oder Japan um das auf dem Spotmarkt verfügbare LNG konkurriert.

Was also unternimmt die Bundesregierung? Kanzler Olaf Scholz handelt bei allen Fragen zum Osten Europas bedächtig. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) dagegen sieht einen »politischen Handlungsauftrag«. Er klebt den Armen gerade ein finanzielles Trostpflästerchen auf und will für den kommenden Winter »richtige Lösungen«, denn: »Wir können nicht noch einmal in so eine Situation reinlaufen, wie wir sie jetzt erlebt haben.«

Die Antwort zeigt: Er hat nicht begriffen, worum es geht. Die Energiefrage ist hochkomplex und der Konflikt mit Russland lässt sich weder mit Sanktionsdrohungen noch mit solchen banalen Ankündigungen lösen.

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