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- »Möwe« am Berliner Ensemble
Freigespielt
Das Solo »Möwe« am Berliner Ensemble ist ein beißender Kommentar zum sexualisierten Theaterbetrieb
Schauspielerin Lili Epply beginnt diesen Abend am Berliner Ensemble in der Rolle der Nina Seretschnaja aus dem Stück »Die Möwe« von Anton Tschechow. Nina möchte Schauspielerin werden und scheitert zum Ende des Stücks am »Leben auf der Jagd nach ihrer Karriere«, wie es im Programmheft heißt. Allein vor einem rosa Vorhang steht Epply, mit Tutu und nackten Beinen. Als Stilbruch trägt sie bunte Socken in ihren hohen Absatzschuhen. Das signalisiert zum einen Hingabe an die klassische Weiblichkeit, die aber zum anderen gepaart ist mit moderner Zurückhaltung gegenüber der Ausbeutung des weiblichen Körpers.
Aus dem Umstand heraus, dass Tschechows Nina eine bekannte Vorsprechrolle für Schauspielerinnen ist, erwächst ein Abend, der sich mit den unterschiedlichen Aspekten der Spielpraxis beschäftigt. Es ist der Beginn einer Ideenkette, die den Anspruch überdenkt, sich in die Rolle hineinversetzen zu müssen. Wie Tschechow sich in seinen Schriftstellerfiguren Trigorin und Treplev selbst reflektiert, nimmt sich hier eine Schauspielerin ihren Platz im Spiel, um ihre künstlerische Praxis zu reflektieren.
Das Wort »Abend« für eine Theaterinszenierung wird immer wieder ganz gezielt betont. Das Ziel besteht nämlich darin, irgendwie »einen Abend zu gestalten«. Die Vorstellung wird dabei sowohl zu einem organischen Ganzen wie auch absichtlich in aufeinander folgende Teile fragmentiert. Sechs Höhepunkte und ein Tiefpunkt gliedern das Stück, in dem sich eine Schauspielerin mit ihren Fähigkeiten und den Ansprüchen an die Darstellung auseinandersetzt.
Es ist die »Coming-of-age«-Geschichte einer Schauspielerin, die uns mitnimmt, die Frage zu ergründen, warum wir sehen, was wir sehen, wenn wir ins Theater gehen. Es ist aus der Perspektive einer alterslosen Schauspielerin erzählt. Aus der Gefahr heraus, zu sehr eine junge Schauspielerin zu spielen, die Epply tatsächlich ist, nimmt sie Rollen an, die sie nicht zum Ausdruck bringen kann.
Epply spielt das erste Viertel des Stücks mit slawischem Akzent. Es ist nur die erste Auseinandersetzung mit der Erwartung an Schauspielerinnen, sich ganz in die Rolle vertiefen zu müssen. Wie ist es wohl, Nina von 1896 in Sankt Petersburg zu sein? In der Annäherung an diese Aneignungsproblematik macht die Arbeit aber auch einen Generationenkonflikt sichtbar. Das Nachmachen eines Akzents gilt heute als verpönt, wo es früher zur Authentizität der Darstellung beitragen sollte. Die erweiterten osteuropäischen Klischees des Spiels einer sauberen, ehrgeizigen Ballettfrau wirken dann auch etwas überzogen.
Aber der Abend lebt von diesen Klischess, die manchmal schlau, manchmal gewollt billig sind. Die dargestellte Slawin schlüpft beispielsweise in die Rolle einer Stewardess. Ein französischer Akzent wird nachgemacht, um »sexy« zu wirken. Viele Pointen setzen aber wiederum auch ein gewisses Insiderwissen voraus. Viele Spitzen gegen die gegenwärtige Theaterlandschaft sind spöttisch und schon fast gemein.
Am Premierenabend sind viele Schauspielerinnen und Theatermacherinnen im Publikum, die lautstark lachen. Es wird sich über »Diskursabende« lustig gemacht. Die Potenzen der Ironie sind nicht immer klar. So wird auch der Anspruch, dass sich das Theaterspiel mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen soll, zum Gegenstand der Belustigung. Es lässt sich vermuten, dass sich aber eigentlich darüber lustig gemacht wird, dass sich darüber lustig gemacht wird. Klar ist das aber nicht. Und so wird von Epply immer wieder auf das Programmheft verwiesen. Man solle das lesen. Vielleicht, um den Hohn besser einordnen zu können.
Und verhöhnt wird so einiges. Sich vom Arbeitsverhältnis mit einem »typisch männlichen Regisseur« abgrenzend, der die Schauspielerin zwingt, sich nackt auf die Bühne zu stellen, will die Schauspielerin von heute das selbstbestimmt entscheiden. Angefangen von der Abendgestaltung, über Casting- und Einstellungspraxis geht es auch um das Verhältnis zwischen Regisseurin und Schauspielerin. Im Gegensatz zu diesem starr hierarchischen Verhältnis ist die Inszenierung ausdrücklich im Autorinnenkollektiv entstanden. Autorin, Darstellerin und Regisseurin sind hier nicht mehr getrennt voneinander. Sarah Viktoria Frick und Anne Kulbatzki, die als Autorin und Regisseurin genannt werden, sind selbst auch Schauspielerinnen.
Die Darstellungspraxis wird in den Fragmenten zwischen dem Rollenverständnis und der Emotionalisierung des Spiels am deutlichsten und nachhaltigsten verhandelt. Ein beiläufiger Witz stellt allerdings einen der Glanzpunkte dar. Epply in der Rolle des Gretchen findet das bekannte Schmuckkästchen von Faust. Sie erhofft sich nicht irgendein Schmuckstück darin, sondern den Iffland-Ring. Dieser wird von Schauspieler an Schauspieler weitergegeben, jeweils an denjenigen, der als »würdigster« Bühnenkünstler im deutschsprachigen Raum gelten könne, ohne dass bis jetzt eine Schauspielerin in der Erbfolge denkbar gewesen wäre.
Die inszenatorischen Höhepunkte bestehen in einer Auseinandersetzung mit dem eigenen »Schicksal«, wie es auch der Tiefpunkt ist. Dadurch bekommt die Vorstellung eine besondere Dynamik, die sie im Text manchmal zu gewollt herstellen möchte. Der Monolog erinnert an einen Facebook-Feed, den man zu schnell durchscrollt. Überall nur assoziatives Geplapper. Gewollt dynamisch stößt das Eine-Frau-Stück an seine Grenzen. Durch das Format hat es eine teilweise enge Linearität. Das ist in den ewigen Assoziationsketten etwas ermüdend. Wäre das Stück nicht in Fragmente eingeteilt, käme der Text dem bekannten »Doomscrolling« - dem endlosen Konsumieren von Schlaglichtern auf dem Smartphone - sehr nahe.
Die Schlusssequenz ist mit »Opening Night« betitelt. Als Referenz auf den gleichnamigen Film von 1977 gelesen, geht es hier um die Beschäftigung mit dem Alter. Das ist etwas vorauseilend. In dem Film erfährt die Schauspielerin Myrtle Gordon kurz vor ihrem Auftritt, dass sich eine ihrer Fans umgebracht hat. Es geht um Ruhm und um seine Schattenseiten.
Der Tiefpunkt wird als Stereotyp der alkoholkranken, von Selbstzweifeln zerfressenen Schauspielerin verhandelt. In einer Box sitzend, tobend und allein, hat sie keine Beziehung mehr zu ihrer Rolle. Endlich hat sich Epply freigespielt von ihrer anfänglichen Aufregung und brilliert. Das Ende ist so überdreht wie der Anfang. Über der Bühne schwebend, schluckt sie mehrere Kapseln Theaterblut, um dann triefend und kopfüber zu sterben. Die Anstellung am Theater hat sie erreicht: Auf der Website des Berliner Ensembles findet sich tatsächlich eine Nina Seretschnaja als Ensemblemitglied.
In der Rolle der Nina muss sie als Schauspielerin beweisen, dass sie sich für eine Festanstellung eignet. Das Stück bleibt auf der Ebene des individuellen Spiels einer Schauspielerin stehen. Obwohl es um eine Aufnahme ins Ensemble geht, tritt Epply nicht in Beziehung zu anderen Spielfiguren, sondern allein zum Publikum. Die individuellen Fähigkeiten werden zur Schau gestellt, aber es wird nicht gezeigt, wie daraus ein Spiel erwachsen soll.
Die Inszenierung stellt sich als Metatheater auf. Oft ist dabei die Thematik nicht besonders publikumsfreundlich, weil nicht ausdrücklich für Fachfremde aufbereitet, und doch wirken die Zuschauer sehr unterhalten. Die Selbstreferentialität ist faszinierend, auch wenn man nicht alles versteht. Gerade das Übertriebene des Spiels, als Zurschaustellung eines Werkzeugkastens von Fähigkeiten, und an die körperlichen Grenzen der Schauspielerin Gehende scheint das Publikum besonders zu begeistern.
Dieser beißende Kommentar zum sexualisierten Theaterbetrieb ist zwar berechtigt, aber es lässt das Publikum auch gespannt zurück, wie tragfähig sich diese Kritik weiterentwickeln kann. Interessant wäre es jetzt, über die Spielplanbesprechung hinaus, ein weiteres Stück des Autorinnenkollektivs zu sehen. So beschreibt Anne Kulbatzki den Abend als »Pilotfolge« - und als das steht er auch ganz deutlich im Raum.
Nächste Vorstellungen: 18., 19. und 20.2.
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