In den Krieg gezwungen

Innocent Opwonya war Kindersoldat in Joseph Konys «Lord’s Resistance Army» in Uganda. Jetzt kämpft er gegen deutsche Waffenexporte

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 7 Min.

Hör auf zu heulen, sonst knallen wir dich auch ab!« Innocent Opwonya war gerade einmal zehn Jahre alt, als er mit ansehen musste, wie Kämpfer von Joseph Konys berüchtigter »Lord’s Resistance Army« (LRA) seinen Vater abführten und im Dschungel erschossen. Er durfte nicht um ihn weinen. Kurz darauf wurde Innocent - englisch für unschuldig - als Kindersoldat dazu gezwungen, mit einem deutschen G3-Schnellfeuergewehr auf Menschen zu schießen. Heute lebt er in Köln und kämpft als Friedensaktivist dafür, dass deutsche Waffen nicht in die Hände von Kindersoldaten gelangen. Der »Red Hand Day« macht jedes Jahr am 12. Februar darauf aufmerksam, dass weltweit immer noch Hunderttausende Minderjährige zum Kämpfen und Töten gezwungen werden.

»Joseph Konys Männer kamen im Morgengrauen. Sie waren mit Gewehren und Macheten bewaffnet und traten die Tür unserer Hütte auf«, erinnert sich Innocent Opwonya an jene Nacht vor mehr als 21 Jahren, die sein Leben für immer verändern sollte.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Kein Verstecken mehr: Die 14-jährige Schwimmerin Husnah Kukundakwe will Vorbild für behinderte Menschen in Uganda werden

Seit 1987 kämpfte die LRA unter Führung des charismatischen Warlords Joseph Kony im Norden Ugandas gegen die ugandische Regierung. Die LRA, die unter anderem von einem hochrangigen UN-Diplomaten als »wohl brutalste Rebellenorganisation der Welt« bezeichnet wurde, gab vor, einen christlichen Gottesstaat auf Grundlage der Zehn Gebote errichten zu wollen, entführte dafür bis zu 100 000 Jungs und Mädchen und zwang sie, als Kindersoldaten zu kämpfen. Ob Joseph Kony noch lebt, ist unklar und die LRA gilt mittlerweile als militärisch weitestgehend besiegt, doch die Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen gehen davon aus, dass es derzeit weltweit immer noch 250 000 bis 300 000 minderjährige Soldaten gibt. Rund 40 Prozent von ihnen sollen Mädchen sein. Die meisten von ihnen kämpfen für Rebellenorganisationen in Afrika. Die UNO geht davon aus, dass allein zwischen 1990 und 2000 etwa zwei Millionen Kinder im Kampf gestorben, sechs Millionen zu Invaliden wurden und rund zehn Millionen schwere seelische Schäden erlitten.

Leben als Halbwaise

Aus Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch die LRA hatten Innocent und seine ältere Schwester Prossy deshalb jahrelang zusammen mit Tausenden anderen Kindern in sogenannten bewachten Safehouses in der wenige Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernten Stadt Gulu übernachtet. Doch in der regnerischen Nacht, in der er entführt wurde, rechneten Innocents Eltern nicht mit einem Überfall und wollten ihre Kinder bei sich haben. Ein tödlicher Irrtum.

Die Kämpfer zerrten Innocent, seinen Vater Richard und rund 60 weitere Jungs und Männer aus ihren Hütten. Als Innocents Mutter Carolyn die offenbar teilweise unter Drogeneinfluss stehenden Rebellen anflehte, zumindest ihren erst zehn Jahre alten Sohn zurückzulassen, stießen sie sie zu Boden und drohten, sie zu erschießen, falls sie nicht sofort aufhöre, zu schreien. Mit den gefangenen Jungs und Männern verschwanden die Rebellen in die Nacht. Mit auf den Rücken gefesselten Händen und mit einem Seil aneinandergebunden marschierten sie drei Nächte lang Richtung Norden, Richtung Sudan. Tagsüber versteckten sich die Rebellen und ihre Gefangenen in dichten Wäldern, nachts zwangen sie die Entführten zu erbarmungslosen Gewaltmärschen.

In der zweiten Nacht konnte Innocent nicht mehr. Weil er ohne Schuhe marschieren musste, bluteten seine Füße. Als er entkräftet und mit unerträglichen Schmerzen liegen blieb, wollte sein Vater ihn tragen. Die LRA-Kämpfer widersprachen. Sie separierten Innocents Vater von der Gruppe, dann fielen Schüsse.

»In diesem Augenblick wollte ich nur eine Waffe und die, die meinen Vater getötet hatten, umbringen. Ich wollte Rache«, erinnert Opwonya sich über 20 Jahre später an die Nacht, in der sein Vater ermordet wurde, weil er seinem zehnjährigen Kind helfen wollte.

Lautlos weinend marschierte die Halbwaise weiter. Nach drei Nächten erreichte der Gefangenen-Treck ein im Dschungel verstecktes Ausbildungslager im heutigen Südsudan. Zwei Wochen lang wurde Innocent dort mit der abstrusen und menschenverachtenden Ideologie der LRA indoktriniert und bei drückender Hitze bis zur Erschöpfung mit militärischem Drill geschunden. Dann kam der Tag, den seine Ausbilder den neu zwangsrekrutierten Kindersoldaten als »den größten Tag in eurem Leben« ankündigten. Umgeben von Dutzenden Leibwächtern besuchte Rebellenführer Joseph Kony die jungen Kämpfer. Die allermeisten LRA-Kindersoldaten bekamen Kony nie zu Gesicht.

Die Flucht gelingt

Innocent bekam vom LRA-Gründer persönlich ein deutsches G3-Schnellfeuergewehr ausgehändigt. Dazu rund 60 Schuss Munition. »Das Gewehr ist jetzt deine Mutter und dein Vater. Wenn du etwas brauchst, wirst du es dir mithilfe des Gewehrs nehmen können«, sagte der Rebellenführer, als er Innocent die fast viereinhalb Kilo schwere Waffe überreichte.

»Natürlich wollte ich Kony am liebsten gleich mit dem Gewehr töten, aber ich wusste, dass seine Leibwächter mich sofort erschossen hätten. Außerdem hatte ich Angst vor seinen Joks«, berichtet Opwonya. Den Kindersoldaten war eingetrichtert worden, dass die Totems, die Kony um seinen Hals trug, den Rebellenführer unverwundbar machten und dass seine Joks - die ihn beschützenden Geister - sogar jene augenblicklich töten würden, die nur schlecht über ihn dachten.

In den nächsten Wochen wurde Innocent an der deutschen Waffe ausgebildet, die so schwer war, dass er sie damals kaum halten konnte. Während eine Gruppe Kindersoldaten durch flache Schützengräben robbte, mussten andere Kindersoldaten mit Sturmgewehren über die Gräben schießen. Ragte ein Kind aus dem Graben heraus, wurde es getroffen. »In nur zwei Wochen starben so 18 Kinder. Zwei von ihnen waren mit mir entführt worden«, berichtet Opwonya. Andere Kinder wurden geopfert, um böse Geister zu besänftigen oder wegen Verstößen gegen die brutalen Regeln im Ausbildungslager hingerichtet.

Der zehnjährige Innocent und die anderen Jungs, die das brutale Training überlebten, mussten kurz darauf in ihr erstes Gefecht mit Regierungssoldaten ziehen. Anschließend versuchte Innocent zu fliehen - und wurde erwischt. Der damals erst 14-jährige Kommandeur seiner Truppe ließ die anderen Kindersoldaten darüber abstimmen, ob der Deserteur zur Strafe erschossen oder nur verprügelt werden solle. Die jungen Soldaten entschieden sich für Prügel. Mit Eisenstangen zertrümmerten sie ihrem Kameraden fast die Schienbeine. Hätte ein entführtes Mädchen, das mit einem viel älteren Kommandeur zwangsverheiratet worden war, nicht regelmäßig seine Wunden gereinigt und desinfiziert, Innocent wäre wahrscheinlich an einer Blutvergiftung gestorben.

Die Eisenstangen hätten Innocent fast die Beine gebrochen, doch sie konnten nicht seinen Willen brechen, dem Morden zu entfliehen. Als er zusammen mit anderen Kindersoldaten junge Mädchen entführen sollte, die älteren Kommandeuren als Sexsklavinnen dienen sollten, gelang ihm die Flucht. Er ergab sich ugandischen Regierungssoldaten, wurde in ein von einer christlichen Hilfsorganisation betriebenes Resozialisierungszentrum für ehemalige Kindersoldaten gebracht und schließlich mit seiner Mutter wiedervereint. »Meiner Mutter sagen zu müssen, dass Papa erschossen worden war, weil er mir helfen wollte, als ich nicht mehr laufen konnte, war das Schlimmste«, berichtet der 31-Jährige.

Obwohl er zwei Monate in der Gewalt der LRA war, gelang es Innocent die Schule abzuschließen und später in der ugandischen Hauptstadt Kampala Wirtschaft und Statistik zu studieren. Als erster Sohn seines Dorfes mit einem Studienabschluss kehrte er später in den armen Norden Ugandas zurück und trat als Mentor für Jugendliche einen Job bei einer Hilfsorganisation an. Im Rahmen seiner Arbeit lernte er vor acht Jahren Anne, eine deutsche Lehramtsstudentin kennen, als sie ein Praktikum an einer Schule in Gulu absolvierte. Die angehende Lehrerin aus Norddeutschland und der ehemalige Kindersoldat aus Norduganda verliebten sich, heirateten vier Jahre später. Im letzten Jahr wurde ihre erste Tochter geboren.

Nachdem er noch ein Masterstudium in Wirtschaftspolitik abschloss, trat Innocent ein Trainee-Programm bei »World Vision« an. Im Rahmen der Kampagne »Kein Kind will töten« setzt der strenggläubige Protestant sich für eine strengere Kontrolle von Kleinwaffenexporten ein. »Ich bete jeden Tag, dass ich mit meinem G3 niemanden getötet habe. Aber ich weiß es nicht. Doch eines weiß ich ganz genau: Waffen dürfen Kinder nie zu Mördern machen. Dafür kämpfe ich jetzt.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -