Ferner Krieg so nah

Junge Exil-Ukrainer blicken mit Sorge auf die drohende militärische Eskalation im Donbass - und kritisch auf die Berliner Partyszene

  • Livia Sarai Lergenmüller
  • Lesedauer: 8 Min.
»Berlin ist mein Zuhause«: Hanna, Pavlo, Anton, Eva und Vlada (v. l. n. r.) in der Kreuzberger Bar »Space Meduza«
»Berlin ist mein Zuhause«: Hanna, Pavlo, Anton, Eva und Vlada (v. l. n. r.) in der Kreuzberger Bar »Space Meduza«

Das Stimmengewirr auf der kleinen Terrasse an der Skalitzer Straße hört man schon von Weitem. Eine Menschentraube steht vor dem »Space Meduza«, einer ukrainischen Bar in Kreuzberg. Viele rauchen und unterhalten sich angeregt. Die Tür geht auf, jemand ruft etwas hinaus. Die Menschen beeilen sich: Das Konzert beginnt.

Im hinteren Teil der Bar, zwei Türen weiter, bekommt man davon wenig mit. Hier sitzen fünf junge Ukrainer*innen und diskutieren die letzten organisatorischen Fragen für eine geplante Demonstration. Die Stimmung ist freundschaftlich, auch wenn sich die meisten erst seit wenigen Wochen kennen. Als russische Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschierten, schlossen sie sich zusammen, um von Berlin aus Haltung zu zeigen. Eine Demonstration haben sie bereits organisiert. Ihr Protest gilt dabei sowohl der Bedrohung der Ukraine durch Russland als auch der mangelnden Reaktion in Europa. Die Tür öffnet sich: Anton kommt herein und stellt einen Pizzakarton auf den Tisch. Der groß gewachsene 28-Jährige mit den blau gefärbten Haarspitzen kommt direkt vom Flughafen. Die letzten anderthalb Wochen hat er in der Ukraine verbracht - und hat den anderen dementsprechend viel zu berichten.

Antons größte Aufmerksamkeit gilt Charkiw, wo sich derzeit besonders große Proteste formieren. Bemerkenswert findet er, dass die Linke nun gemeinsam mit der Rechten demonstriere, sogar an Kampftrainings rechter Gruppen teilnehme. Alles in Vorbereitung auf eine potenzielle Eskalation des Krieges. Es sei eine ungewöhnliche Maßnahme, doch beide Seiten eine der Glaube an eine unabhängige Ukraine, sagt Anton. Viele seiner Freund*innen säßen außerdem auf gepackten Koffern, um im Zweifelsfall schnell fliehen zu können. »Die Stimmung ist deutlich deprimierter als sonst im Winter«, sagt er.

Anton lebt seit 2014 in Berlin. Damals wurde Donezk gerade von russischen Truppen besetzt. In der Großstadt im Donbass - einem wichtigen Zentrum der Schwerindustrie und des Kohlebergbaus, nur knapp 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt - ist er geboren. Hier ist er aufgewachsen. Eine Arbeiterstadt. So sei auch das Milieu gewesen, in dem er aufgewachsen ist.

Während Anton auf dem grauen Stoffsofa im »Space Meduza« sitzt, Pizza isst und erzählt, kommen ihm auch schöne Erinnerungen an seine Heimat. Neben seinem Studiums der Elektrotechnik hat er als Journalist gearbeitet und Theater gespielt. »Dadurch musste ich jeden Tag in der Stadt herumfahren, von der einen Seite zur anderen. Dabei traf ich überall zufällig Leute. Ständig stieß ich ungeplant auf Freund*innen von mir. Es war ein sehr schönes Gefühl, alle zu kennen«, erinnert er sich. »Meine Freundin meinte damals scherzhaft zu mir: ›Der Tag, an dem ich einmal durch die Stadt gehen würde, ohne zufällig in jemanden zu rennen, müsse ein schlechter Tag sein.‹ Es war als Spaß gemeint, doch sie hat leider recht behalten: Heute würde ich niemanden mehr treffen. Durch den Krieg sind fast alle weggezogen.«

Er arbeitete für Ruptly, einem Tochterunternehmen des russischen Staatssenders RT. Sie hätten damals eben gut bezahlt, erklärt er sich. Als 2014 die ersten Schüsse in Donezk fallen, begleitet er die Geschehnisse journalistisch, filmt die Auseinandersetzungen. Eines Tages sei ihm eine besonders brisante Aufnahme eines Angriffs gelungen. »Alle wollten das Video haben. Am nächsten Tag sah ich meine Aufnahmen bei BBC und in internationalen Medien. Das hat sich irgendwie gut angefühlt. Wenn du täglich an einem Ort arbeitest, an dem du jederzeit sterben könntest, fühlst du dich früher oder später ein bisschen wie ein Held.«

Kurze Zeit später habe man Anton eine Stelle in Deutschland angeboten. Angesichts der eskalierenden Situation griff er zu und zog nach Berlin. Seitdem ist er nie wieder nach Donezk zurückgekehrt. Seine Familie, sagt Anton, sieht er einmal im Jahr, meist im Sommer. Sie treffen sich dann in Odessa am Schwarzen Meer oder in Tscherkassy in der Zentralukraine. Auf die Frage, ob er sein Zuhause vermisse, antwortet er: »Berlin ist mein Zuhause.« Anton ist sich sicher: »Meine eigentliche Heimatstadt hat sich stark verändert, dort ist nichts mehr von meinem Zuhause übrig geblieben und ich fühle mich nicht mehr sicher.«

Die Pizza ist aufgegessen. Es geht weiter mit organisatorischen Themen. Etwa der Lastenradfrage. Welches eignet sich am besten für den Transport der Lautsprecher? Und was ist eigentlich mit der möglichen Vereinsgründung, um ein Spendenkonto anlegen zu können? Hanna ist unbedingt dafür. Sie sitzt Anton gegenüber, Bier in der Hand, gestikuliert und lacht viel.

Die 25-Jährige ist im ostukrainischen Rubischne aufgewachsen, eine Stadt im Oblast Luhansk, die 2014 ebenfalls von russischen Separatisteneinheiten besetzt wurde. 2019 kam sie für ihre Masterarbeit nach Deutschland. Sie habe hier lange nach so etwas wie einer ukrainischen Community gesucht. In den letzten Wochen hätte sich diese dann ganz plötzlich gefunden. Und die sei nun weitaus stärker als erwartet. »Durch den Krieg sind wir lauter geworden«, sagt Hanna. »Weil wir mussten. Wir sind die erste Generation, die in einer unabhängigen Ukraine aufgewachsen ist, die erste, die unsere echte Geschichte gelernt hat.« Es sei ihre Verantwortung, jetzt Präsenz zu zeigen. Auch hier in Berlin. Hanna erklärt, sie sehe es als ihre Aufgabe an, für die Freiheit und Sicherheit der Ukraine zu kämpfen, auch mit Blick auf künftige Generationen: »Der Krieg hat unsere Identität nur gestärkt.«

Ein zentraler Kritikpunkt der Gruppe: die deutsche Berichterstattung über den aktuellen Konflikt. Vor allem der Fokus auf die deutsch-russischen Beziehungen enttäuscht sie. Hanna echauffiert sich, dass sich alle »nur für Putin und Nordstream 2« interessieren würden: »Doch niemand schert sich um uns und unsere Familien, die Menschen, die tatsächlich von dem Konflikt betroffen sind.« Auch Anton ist wütend. Wenn es in den Medien um postsowjetische Staaten gehe, stehe zuerst stets Russland im Zentrum der Berichterstattung: »Die Medien wollen vor allem Putins nächsten Schritt voraussagen. Es fühlt sich so an, als würde unser Schicksal ohne uns entschieden. Niemand fragt uns nach unseren Vorstellungen.«

Kritisch sieht Anton auch die Berliner*innen, die zuletzt die Ukraine - genauer: Kiew, ukrainisch Kyiv - vor allem als das nächste florierende Technozentrum genutzt hätten. Im Kyiver Stadtteil Podil haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Clubs geöffnet, die stark an das Berlin der 90er Jahre erinnern und Menschen aus der ganzen Welt in die ukrainische Hauptstadt locken. »Es stimmt, Kyiv ist wunderbar zurzeit«, sagt Anton. Seit den Protesten auf dem Maidan 2014 habe sich viel verändert. »Das Bier und der Kaffee wurden besser und die Clubs prägen die elektronische Musikszene.« Aus ebenjener fehle ihm jedoch die Unterstützung. Vor allem, da sich die Clubkultur sonst stets sehr solidarisch mit politischen Bewegungen zeige.

Anton sagt: »Wir fühlen uns alleingelassen. Viele der Berliner Partygänger, die nach Kyiv kommen, sorgen sich höchstens darum, dass ihr Feierdomizil bedroht sein könnte. Niemand interessiert sich jedoch dafür, was tatsächlich mit den Menschen vor Ort passiert.« Erst am Wochenende seien viele Berliner*innen nach Kyiv geflogen, um die Partyreihe »Pornceptual« zu besuchen. Stattdessen wünscht sich Anton, dass man diese Energie nutze, um Druck auf die deutsche Regierung auszuüben und sich politisch zu engagieren: »Die Ukraine ist unser Land, keine Touristenzone. Wenn du herkommen magst, dann nehmen wir dich gern auf. Aber wenn dann eine Zeit kommt, in der wir Unterstützung brauchen, dann gib sie uns bitte. Du hast unsere Clubs in Anspruch genommen, nun verdienen wir deine Aufmerksamkeit.«

Der Frust schafft jedoch auch Kraft. Die Gruppe ist sich einig: Es fühle sich so an, als habe ihr ganzes bisheriges Leben sie auf diesen Moment vorbereitet. Aufgewachsen in der unabhängig gewordenen, finanziell schwachen Ostukraine, die stets unter dem Einfluss Russlands stand, sehen sie sich in der Verantwortung, die Souveränität ihres Landes zu verteidigen. Als Anton vor wenigen Wochen nach Möglichkeiten des politischen Protests in Berlin Ausschau hielt, habe er nichts Adäquates gefunden, erzählt er. Also begann er kurzerhand, eigene Aktionen zu organisieren. Innerhalb einer Woche stellte er mit nur drei weiteren Personen eine Demonstration auf die Beine. Die Gruppe um ihn herum wuchs sofort. »Wir sind ein sehr unterstützender Zusammenschluss. Endlich sammelt und formiert sich die ukrainische Community in Berlin«, sagt Hanna. Vor der aktuellen Eskalation des Konflikts seien die Verbindungen eher lose gewesen. Man kannte sich vage, durch Bars wie das »Space Meduza« etwa. Doch ein wirkliches Gemeinschaftsgefühl habe es nicht gegeben. Das sei nun umso stärker.

Nicht nur junge Ukrainer*innen schließen sich in Berlin zusammen. In der sogenannten Post-Ost-Community vereinen sich verschiedene junge Menschen, die selbst oder deren Eltern aus allen möglichen postsowjetischen Staaten nach Berlin gekommen sind. Anton sieht das mit einer gewissen Skepsis. Das wirke auf ihn manchmal, als würde er zurück in eine missbräuchliche Beziehung gezogen werden. »Wann immer ich in diese Gefilde komme, verliere ich ein Stück meiner Identität. Ich kann das Gefühl nicht loswerden, dass gewisse Personen stärker davon profitieren als andere.« Dennoch, sagt er, sei er dankbar für die Gemeinschaft. Auch während der Kasachstan-Proteste vor wenigen Wochen habe sich die Kraft der Solidarität gezeigt.

Nach dem zweiten Bier wird es auch im »Space Meduza« Zeit, über Vergnügliches zu reden. Als Cineast*innen freuen sich alle in der Gruppe auf die anstehende Berlinale. Ganz in Ruhe lassen will sie die politische Dimension ihrer Identität aber auch hier nicht: Zwei Filme dokumentieren in diesem Jahr den Krieg im Donbass. »Es ist eine Ehre, meine Heimatregion auf der Berlinale zu sehen«, sagt Anton. »Und gleichzeitig sehr schmerzhaft.«

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