- Sport
- Olympia in der Pandemie
An den Menschen vorbei
Der Spitzensport koppelt sich auch dank Olympia immer mehr vom Alltag ab
»Im Chinesischen sagen wir: Durch Sport verbessern wir uns«, erklärte Xu Jichen am Wochenende der internationalen Presse. »Und wir sprechen dabei von drei Ebenen: Exzellenz, Respekt und Freundschaft.« Nach diesen Maßstäben seien die Spiele von Peking bis jetzt ein voller Erfolg, schien der Mann zu schlussfolgern, der in Pekings Organisationskomitee für die Pressearbeit verantwortlich ist. »Beijing 2022« sorge für internationalen Austausch, laufe organisatorisch reibungslos ab. Und dann sei da ja auch noch der erstklassige Sport.
Nicht jede Analyse dieser Olympischen Spiele wird zum gleichen Ergebnis kommen. In dem Austausch, den auch von der Kommunistischen Partei Chinas kontrollierte Medien beschwören, sieht man außerhalb Chinas eher eine Machtdemonstration des aufstrebenden Staates. Was die reibungslose Organisation angeht, stechen Vorfälle ins Auge, bei denen ausländische Journalisten vor Ort an ihrer Arbeit gehindert werden, obwohl die Regeln ohnehin schon so streng sind wie nie zuvor. Und der erstklassige Wintersport findet bisweilen an einem Ort statt, der ohne Kunstschnee keinesfalls Gastgeber wäre. Nie wurden Olympische Spiele so kontrovers diskutiert wie dieses Mal.
Wobei einem dieser Satz bekannt vorkommt. Vor einem halben Jahr, als die Sommerspiele wegen pandemiebedingter Verspätung erst 2021 stattfanden, war »Tokyo 2020+1« die bis dato umstrittenste Olympiaausgabe. Inmitten gestiegener Kosten, einer noch geringen Impfquote der Menschen in Japan und Sicherheitsregeln, die dem Sportevent jeden Spaß nahmen, waren rund 80 Prozent der dortigen Bevölkerung gegen eine Austragung. Doch die japanische Regierung machte mehrfach deutlich, dass ihr die öffentliche Meinung egal war.
So erlebte Tokio die wohl deprimierendsten Olympischen Spiele bis dahin. Der öffentliche Rundfunksender NHK strahlte fast rund um die Uhr ein Jubelprogramm aus, aber die Bewohner der Stadt verfolgten das Event genauso wie Menschen in New York oder Kapstadt - nur als TV-Event. Praktisch jede Spielstätte musste leerbleiben, auch das groß geplante Kulturprogramm in Japans Hauptstadt - von LGBT-Aufklärung bis Public Viewing - fuhr auf Sparflamme oder fiel aus. So auch der ersehnte Austausch Japans mit der Welt: Touristen durften nicht kommen, aber die Athleten, sofern sie ihren Job machen wollten, mussten. Noch einmal verschieben stand nicht zur Diskussion.
Selbst Sportromantikern kamen Zweifel, ob es bei Olympia überhaupt noch um Sport gehe. Denn wenn die Menschen vor Ort das Ereignis nicht wollten, weil sie davon nicht mehr bekamen als eine teure Rechnung - für wen, außer für die Spitzensportler, war es dann da? Sponsoren hatten Milliarden für das Megaevent ausgegeben, das sie vor allem wegen der hohen Einschaltquoten als Chance sahen, ihre Marken weltweit zu präsentieren. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) brauchte das Event, weil es ohnedies kein Geld einnimmt. Und Japans Organisatoren, die sich längst dazu verpflichtet hatten, hofften auf einen diffusen Werbeeffekt fürs Land, das ein Großereignis auch in einer Pandemie austragen kann.
Um Sport als Freude am Spiel und an körperlicher Betätigung, im traditionellen Sinn also, sei es den Veranstaltern nie wirklich gegangen, finden Kritiker. »Im Vorlauf der Tokioter Spiele wurde der Elitesport mit viel Geld gefördert, damit Japan Medaillen und damit internationales Prestige gewinnt«, sagt Atsuhisa Yamamoto, Sportprofessor an der Seijo Universität in Tokio. »Aber der Breitensport, der die Menschen vom Alltagsleben ablenkt und gesund hält, erhält praktisch keine öffentliche Unterstützung.«
In seinem Buch »Post sport no jidai« (Die Post-Sport-Ära) argumentiert Yamamoto, wie sich der Spitzensport zuletzt immer deutlicher von dem der Allgemeinheit entkoppelt hat. »Unsere Vorstellung vom Sport, die von einem gesunden und natürlichen Körper ausgeht, ist in eine Krise geraten«, schreibt er. Zumal dann, wenn als Vorbilder die heutigen Elitesportler gelten sollen. Die seien längst künstlich verstärkte Wesen, sei es durch Doping, Datenanalyse oder teure Ausrüstung und harte Trainingsregime.
Aber auch die Erzählung von Verständigung und Frieden durch den Sport sehen kritische Beobachter als Mythos an. Und das sei sie von Anfang an gewesen. Pierre de Coubertin, Vater der modernen Olympischen Spiele, sah große Sportturniere als Möglichkeit, die französische Bevölkerung zu disziplinieren und womöglich für einen nächsten Krieg zu stählen. In seinem Artikel schrieb er zudem: »Sport vermag eine geistige und effektive Rolle bei der Kolonialisierung zu spielen.« So ging es schon vor mehr als einem Jahrhundert beim oft bemühten Internationalismus des Sports zugleich um Nationalismus.
Die Versuche von Pekings Organisatoren, die aktuellen Spiele als Machtdemonstration Chinas einzusetzen, sind also keine chinesische Eigenart. Und dass es den Veranstaltern großer Sportevents nur vordergründig um Sport geht, zeigt sich an Orten, wo Menschenrechte verletzt werden, nur besonders deutlich. Schließlich offenbart sich auch die Behauptung Pekings, in China gebe es jetzt 300 Millionen Wintersportler, bei genauerem Hinsehen als propagandistisches Spiel mit Statistiken.
Wenn 2024 die nächsten Sommerspiele in Paris steigen, dürfte sich die Kritik kaum erledigt haben, nur weil Frankreich eine Demokratie ist. Dort könnte eine Diskussion um die koloniale Entstehungsgeschichte von Olympia losbrechen. Besonders wenn Thomas Bach dann immer noch betont, Olympia würde die Welt zusammenbringen.
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