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Von der Unterbringung zur Beheimatung

Senat und alle Fraktionen wollen Paradigmenwechsel bei der Beendigung von Wohnungslosigkeit

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Sozial-Staatssekretär Alexander Fischer (Linke) will »Housing First zur Regelversorgung in der Wohnungslosenhilfe« machen. Der bereits seit 1985 in Finnland praktizierte Ansatz, Wohnungs- und Obdachlosen zunächst ohne Vorbedingungen eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag zur Verfügung zu stellen und erst dann weitere psychische und soziale Probleme anzugehen, soll also perspektivisch der reguläre Umgang mit dem Problem sein, das allein in Berlin Zehntausende Menschen betrifft.

Als dickes Brett bezeichnet der Staatssekretär während der Sitzung des Sozialausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses am Donnerstag diesen »fachpolitischen Paradigmenwechsel«. »Wie gestalten wir die 67er-Hilfen so um, dass die Wohnungsunterbringung im Vordergrund steht? Wie gestalten wir das ASOG so um, dass es von Unterbringung zu Beheimatung kommt?«, nennt Fischer die großen Aufgaben. Ersteres bezieht sich auf Paragraf 67 des Sozialgesetzbuches XII des Bundes. Er besagt: »Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, sind Leistungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu erbringen, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind.« Das ASOG ist das Berliner Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz. Beide regeln den Hilfsanspruch von Menschen in Obdach- oder Wohnungslosigkeit.

Alexander Fischer sagt das am Ende der Besprechung im Ausschuss anlässlich des Auslaufens des ersten Pilotprojekts zum Thema Housing First in Berlin. Insgesamt 83 Menschen haben bei zwei Projekten von zusammen drei Trägern - die Neue Chance gGmbH zusammen mit der Stadtmission Berlin und der Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) - seit 2018 in der Hauptstadt Wohnungen mit langfristigen Mietverträgen bekommen. Mit großem Erfolg. Bei nur 2,8 Prozent lag die Abbrecherquote bei Neue Chance, beim SKF hat keine der untergekommenen Frauen abgebrochen.

Beim bisher in Deutschland praktizierten Ansatz stehe die Suche nach eigenem Wohnraum »meistens am Ende der Maßnahmen«, erläutert Ingo Bullermann, Geschäftsführer von Neue Chance. Bei Housing First gebe es eine Problembearbeitung, ohne dass die Menschen sich Sorge machen müssen, dass die Hilfe beendet wird, weil sie vielleicht nicht so zusammenarbeiten, wie der Träger oder das Bezirksamt sich das vorstellen. »Es werden Ziele aufgestellt, aber ihre Erreichung ist keine Bedingung für Erhalt von Wohnraum oder Hilfe«, verdeutlicht er noch einmal den Unterschied zum klassischen System.

»Es gibt Projektteilnehmer*innen, die mit 35 Jahren teilweise 15 Jahre auf der Straße waren, also das ganze Erwachsenenleben. Menschen, die immer wieder auf der Straße gelandet sind«, schildert Birgit Müncho, Referentin in der Sozialverwaltung. Oder auch gesundheitlich schwer Unterversorgte. »Wir hatten einen Menschen, der einen unbehandelten Leistenbruch hatte, sich das selbst abgebunden hatte«, so Müncho weiter. Menschen, die traumatische Erlebnisse in ihrer Obdachlosenzeit hatten und denen das selbst gar nicht bewusst gewesen sei. Auch Drogenabhängige - »und damit meine ich nicht ein bisschen kiffen« - und Personen, die kaum noch familiäre oder freundschaftliche Verbindungen hatten. Die Hilfe werde »selbstständig angenommen«, und schließlich gingen die Menschen immer mehr dazu über, ihr Leben selbst zu bestimmen. »Es ist ganz wichtig, Vertrauen aufzubauen in die Welt, in die Gesellschaft und sich selbst«, sagt Birgit Müncho über das Projekt.

Über 400 Anfragen von Frauen und über 100 von Frauen mit Kindern habe das Projekt Housing First für Frauen bis Februar 2022 gehabt, berichtet Elke Ihrlich vom Sozialdienst katholischer Frauen. Sie unterstreicht die Bedeutung eines eigenen Angebots, weil Frauenwohnungslosigkeit besonders verknüpft sei mit Gewalterfahrungen und sexuellem Missbrauch in Kindheit und Partnerschaft. »Ich erinnere mich an einen Anruf einer Frau: ›Na, sind denn da auch Männer? Dann komme ich nicht.‹«, berichtet Ihrlich. 86 Prozent der Untergekommenen hätten angegeben, sehr zufrieden zu sein. Der Rest gab immer noch gute Noten in punkto Zufriedenheit. Oftmals seien nach der Versorgung mit einer Wohnung und der Betreuung wieder Kontakte zur Herkunftsfamilie und eigenen Kindern geknüpft worden, so Ihrlich. Sie legt vor allem Wert auf einen einheitlichen guten Standard bei der weiteren Umsetzung von Housing First.

»Housing First hat sich als sehr erfolgreiches Instrument erwiesen. Berlin hat eine wegweisende Rolle in Deutschland und Europa übernommen«, fasst Karen Holzinger von der Berliner Stadtmission die Ergebnisse zusammen. »Wenn Housing First eine wahrnehmbare Rolle spielen soll, müssen die Kapazitäten deutlich erweitert werden«, fordert Holzinger.

Im Doppelhaushalt 2022/2023, dessen Entwurf kommende Woche vom Senat beschlossen werden soll, sind für das Projekt doppelt so hohe Mittel eingestellt als bisher. Staatssekretär Fischer appelliert an die Abgeordneten, dies so auch zu bewilligen. Widerstand ist nicht zu bemerken, alle Fraktionen loben die Erfolge.

Neue Chance und Stadtmission können dann 100 Plätze anbieten, der Sozialdienst katholischer Frauen geht sogar von 120 Plätzen aus. Die Ausschussvorsitzende Sandra Brunner (Linke) findet es »enorm misslich, dass Unionsbürgerinnen und -bürger bisher ausgeschlossen werden«. Berlin habe einen gewissen Spielraum, bei der Mietübernahme von Menschen aus der EU setze allerdings das Bundesrecht »enge Grenzen«, bedauert Fischer. Es gilt also noch einige dicke Bretter zu bohren.

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