Unfassbar ist unfassbar

Semantische Perlen aus der Berichterstattung über die Olympischen Winterspiele in Peking

  • Jürgen Roth
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer aufgibt, schafft auch keine kleinen Schritte«, prechtete, die Sinnlosigkeit eines verrückt gewordenen Zeitalters verzweifelt abwehrend, der ARD-Kommentator Wilfried Hark vor ein paar Tagen beim Biathlon vor sich hin. Und seine Ablösung beim nächsten Rennen, bei der Verfolgung der Männer, der in seiner haltlosen Schreihalsigkeit unergründliche Christian Dexne, versuchte ihm mit dem dissolut energischen Ausruf »Ist der ’ne kalte Wurst!« gewissermaßen beizuspringen, nachdem der gründlich abgebrühte französische Wettkämpfer Quentin Fillon Maillet am Schießstand wieder mal alle fünf Scheiben versenkt hatte.

Beschwörung, die sich selber nicht mehr glaubt, einerseits - brünftige Feier des Triumphs der Entschlossenheit andererseits: Es ist eine trübe Melange, die einem seit zwei Wochen während der Olympischen Winterspiele aus dem Fernsehkisterl entgegenschwallt. Als »eine komplett verrammelte Fuhre« bekrähte der immerzu scheinbar kurz vor der Entbindung stehende Eik Galley einen desaströsen Lauf der Monobobpilotin Mariama Jamanka, während der sehr hoffnungsstarke Nachwuchsmikrofonist Benedikt Brinsa (ebenfalls ARD) den finnischen Eishockeywalküren in einer mustergültig alogischen Pirouette wenigstens zu bescheinigen versuchte: »Die Ideen sind gut durchdacht.« Genützt hat es nichts.

So was hätte ich ja auch gern mal: gut durchdachte Ideen. Meine sind zunächst stets vage (bin ja nicht Platon); danach setzt das vermaledeite Denken, wenn nicht gar das Nachdenken ein; und wenn man sich glücklich schätzen darf, zeichnet sich dann die Vorstellung einer Form ab, in der die Ideen Gestalt gewinnen. Man nennt es den Prozess des erkennenden Zur-Kenntlichkeit-Beförderns dessen, was einem vorschwebt(e) - die Bedingung der Möglichkeit, einen sinnvollen Satz zu sagen oder zu schreiben.

Dergleichen bedarf eines gewissen Quantums an Zeit und einer habituellen Distanz, und man sollte den Live-TV-Quasslern nicht vorwerfen, dass ihnen das Drecksmedium, dem sie dienen, jene vorenthalten. Doch die Massierung automatisierter Blödplapperei verweist dessen ungeachtet auf eine systemische Erosion sprachlicher und kognitiver Tiefenstrukturen, die (instinktiv) handhaben oder nicht handhaben zu können den Stand der Bildung oder den Mangel an ebendieser zum Ausdruck bringt.

Es sind der (beliebigen) Beispiele viele. Sie merken, offenbar betäubt vom eigenen Instant-Geschnatter und -Geschrei, allesamt überhaupt nichts mehr. Galt mit Augustinus ehedem für jeden, der sein Auskommen in der medialen Öffentlichkeit findet, dass sich sprachliches Bewusstsein im »Achtgeben auf die Wörter« zeige, sind heute Ignoranz und Indolenz gegenüber dem Ausdruck Pflicht.

Da wäre etwa die durch unzählige Fernseheinsätze gestählte, höhnische Sprachschänderin Jessy Wellmer (auf jeder Klassenfete hätte sie die Nervensäge par excellence abgegeben), die es so lässig wie hochnäsig schafft, innert zwölf Sekunden »was Herziges« und »was Feines« zu bekakeln (was, ist ohne jede Relevanz) und in die Kamera zu schmettern: »Die Freestyler sind so was von unterwegs!« Beziehungsweise: »Das war auch so super!« (Konzediert sei, dass sie sich einmal selbsteinsichtig ins Wort fiel: »Das ist absoluter Quatsch« - um aber rasch gegenüber einem Studiogast einen Konter in eigener Sache zu »fahren«: »Ist das ein besonderes Souvenir an vergangene Spiele?«)

Da wären diese speziellen Analyseinterviews, die einfach keine Sau abschaffen will und die neue Höhen der psychologischen Tiefe erklettert haben: »Wie haben Sie sich da gefühlt?« - »Sie wirken sehr traurig. Liegt das daran, dass am Ende nur drei Zehntel auf die Bronzemedaille gefehlt haben?« - »Was war hinterher auf Ihrem Handy los?« - »Was erwarten Sie im nächsten Wettbewerb?« Eine wünschenswerte Antwort wäre gewesen: »Ich sag mal: Ja klar, dass es voll scheiße läuft.«

Hinzu kommt bei derartigen Narrennullitäten - neben der glanzvollen Stephanie Müller-Spirra, die sich die Reise nach China vollauf verdient hat (»Ist es mittlerweile das befreiende Gefühl, das da ist?«) -, dass der BR-Kasper Markus Othmer ununterbrochen Fragen stellt, die vermittels der Vergleichspartikel »wie« einen Komparativ implizieren, wo nichts vergleich- oder gar steigerbar ist: »Wie unfassbar ist das?« Unfassbar ist unfassbar - nicht mehr oder weniger unfassbar.

Und da wäre ein zumindest für mich, einen durch sämtliche Mangeln gedrehten Medienobservateur, ganz und gar innovatives Skisprung-Rotwelsch. Der ehemalige Schanzenrocker Toni Innauer (Österreich, bühnentaugliche lange, fransige Haare), zuständig für die wissenschaftliche Aufklärung im ZDF, rührt und quirlt einen semantischen Topfen zusammen, den das »Jahrtausendgenie« (Eckhard Henscheid) Heino Jaeger nicht duftender und nicht dufter hätte auftischen können.

Ich schwöre: Ich war, sobald dieser sprudelnde alpenländische Hochgebirgsrhetor seinen Dienst antrat, ohne Unterlass »ganz begeistert« (Gerhard Polt). Ausnahmslos all seine Sätze gehören in Marmor gemeißelt, um die dichterische Potenz des sportifizierten Menschengeschlechts für die nicht mehr allzu künftigen Zeiten des zu gewärtigenden phylogenetischen Niedergangs aufzubewahren: Er »muss den Sprung sehr schnell dichtmachen«. Es wirken »ein bisschen erhöhte Luftkräfte«. Wichtig sei, »das System richtig zu schließen«. »Er hebt das ganze System nicht«, denn da sei »Überspannung im Oberschenkel« zu beobachten.

So marschiert »es« unbändig vor sich hin: »Nur nicht zu viel nach vorne köpfeln!« Zwischen »Flughörnchenstil« und »Korkenzieherstil« werden, die theoretische Physik revolutionierend, die »Reynolds-Zahl« berechnet und »Teile nach vorne geschleudert«, auf dass die »Biegelinie« oder die »Schneckenkurve« stimme und man auf einer »Welle« vor dem »Fallen« »runterreiten« kann »wie a Vogerl, ganz leichtfüßig«.

Mysterium Skispringen - entweder bin ich zu dumm oder nach zwei Wochen Peking derart plemplem, dass ich mir die gravitationsräumliche Tatsache, dass »der Radius immer schwerer wird«, nicht mehr vorzustellen vermag. Ja, »das ist mir selber ein Fragezeichen« (Prof. Innauer). Und dem Toni, dem Harald Lesch des Wintersportjournalismus, dicht auf den Fersen war der andere Experte fürs Hüpfen und Segeln, Sven »Hanni« (Wellmer) Hannawald, der ausnahmslos so dermaßen bescheuerte Sätze in sein Ansteckempfangsgerät säuselte, dass ein Kugelschreiber nach neun Seiten Mitschrift den Geist ächzend aufgab: »Und das ist ganz anders vom Energielevel geladen.« - »Man hat ja seinen Kopf von früher noch drauf.« - »Das stärkt mich einfach, dass er (…) nicht zu viel nachdenkt.« - »Und dann machst du das Thema«, und zwar dort, »wo’s dann auch real wird«.

Die Grenzen zwischen Vorbild und Parodie sind endgültig und irreversibel verwischt. Genies wie Olli Dittrich und Helge Schneider haben angesichts des »gesamteren Eindrucks« und des »klonoiden Radius« (Hanni) dieses Spracharmageddons nichts mehr zu holen. »Dass eher die Norweger im Favoritendasein leben« - klar wie Königsberger Klopse. »Dass die Schanze hier eher ’ne ballistische Flugbahn hat« - der »Russe« (Polt) merke es sich, und zwar vor allem deshalb, »weil die Restwärme irgendwo einfriert« (Stalingrader Gesetz der Thermodynamik). »Dass er sich noch nicht gefunden hat und dementsprechend vorwärtskommt« - die analytische Philosophie möge darüber räsonieren.

Es mag ja mit Hanni Heidegger so sein: »Das ist wirklich gefühlt gefühlsblind, was da jetzt abläuft.« Variante: »Dann kommst du nicht auf dein Gefühl, sprungkräftig hast du kein Gefühl gehabt.« Irre, was da 14 Tage lang sprachgefühlt ablief. Vielleicht hätte ich »einfach ein Stück mehr sensibel da durchgehen müssen«, mich »einfach geschmeidig reinlassen müssen« (Hanni).

Doch ich gestehe, um versöhnlich zu enden: Bob, das ist es. Gerumpel, Krawall, Punk. »Gefühlt ist das ein Genuss.« (Hanni H.)

Yeah, fuck, that’s it.

»Okay, ham wa abgeredet« (Hanni Hegel) - den unholy shit.

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