• Politik
  • Indonesischer Unabhängigkeitskrieg

Den Haag schaute vorsätzlich weg

Eine Untersuchung verdeutlicht Ausmaß und Schwere der niederländischen Kolonialverbrechen in Indonesien

  • Sarah Tekath, Amsterdam
  • Lesedauer: 3 Min.

Rund 100 000 tote Indonesier haben die Niederlande auf dem Gewissen. Ihr Militär ist verantwortlich für Erschießungen von Zivilisten, für Folterungen, Vergewaltigungen und Brandstiftungen. Die niederländische Armee hat während des indonesischen Unabhängigkeitskrieges von 1945 bis 1949 »strukturell extreme Gewalt« angewendet - daran besteht kein Zweifel mehr. Doch die Reaktionen im Land auf die historischen Tatsachen fallen sehr unterschiedlich aus.

Die Kriegsverbrechen der Niederlande in ihrer damaligen Kolonie werden nun auch von den Ergebnissen der mehrjährigen Untersuchung belegt, die vergangenen Donnerstag unter dem Titel »Unabhängigkeit, Dekolonisation, Gewalt und Krieg in Indonesien« veröffentlicht wurde. Erstellt wurde dieser 2017 von der niederländischen Regierung in Auftrag gegebene Report vom Königlichen Institut für Sprach-, Landes- und Völkerkunde, dem Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozid-Studien sowie dem Niederländischen Institut für Militärgeschichte. Die Regierung stellte dafür 4,1 Millionen Euro zu Verfügung.

Indonesien hatte sich 1945 für unabhängig erklärt. Um die Unabhängigkeit zu verhindern, wurde extreme Gewalt gezielt eingesetzt und toleriert: politisch, militärisch und gerichtlich. Dabei wurden auch die damals geltenden ethischen Grenzen weit überschritten, so die Einschätzung des Reports. Aufgelistet werden Verbrechen wie außergerichtliche Tötungen, Misshandlungen und Folter, Inhaftierungen unter unmenschlichen Bedingungen, das Abbrennen von Häusern und Dörfern, Diebstahl und Zerstörung von Gütern und Lebensmitteln, unverhältnismäßige Luftangriffe und Artilleriebeschuss sowie willkürliche Massenverhaftungen und Internierungen.

Die Untersuchung zeigt auf, dass die Mehrheit der Verantwortlichen auf niederländischer Seite Kenntnis von der systematischen Anwendung extremer Gewalt hatte oder haben konnte, aber dennoch bereit war, dies zu tolerieren, zu rechtfertigen, zu verbergen und straffrei zu lassen - mit dem übergeordneten Ziel, den Krieg gegen die Republik Indonesien zu gewinnen und den Prozess der Entkolonialisierung zu lenken. Dies habe bis hinauf in die Regierungsspitze in Den Haag gegolten. Nach Untersuchungen des Reports lag dem damaligen Ministerpräsidenten Willem Drees bereits 1949 ein entsprechender Bericht vor.

Die Kriegsverbrechen niederländischer Soldaten wurden erstmals 1969 in der breiten Öffentlichkeit thematisiert, als Veteran Joop Hueting im Fernsehen über die Gewalttaten sprach, die während seiner Dienstzeit verübt wurden. Das damalige Parlament ließ Untersuchungen durchführen, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass es zwar Exzesse gegeben, das Militär sich aber im Allgemeinen korrekt verhalten habe. Dieser offizielle Standpunkt wurde seit 1969 nicht revidiert.

Späte Entschuldigung

Erst 2020 entschuldigte sich der niederländische König Willem-Alexander für die begangenen Verbrechen. Nun hat auch Ministerpräsident Mark Rutte eine öffentliche Entschuldigung ausgesprochen. »Wir müssen den beschämenden Fakten ins Auge sehen«, erklärte er und sprach von »einer Kultur des Wegschauens.«

Die Verantwortung für die Kriegsverbrechen sieht Rutte bei der niederländischen Regierung, dem Parlament und der Kriegsmacht »als Institution«. Sein Kabinett übernehme die volle Verantwortung für die Fehler und das »kollektive Versagen« der Regierung von damals. Trotzdem will der Ministerpräsident die »extreme Gewalt« nicht als Kriegsverbrechen einstufen. »Das ist eine juristische Einschätzung und Sache der Staatsanwaltschaft«, so Rutte.

Die Reaktionen im Land auf die Studie sind geteilt. Das Komitee niederländische Ehrenschulden, das sich für Opfer der Kolonialherrschaft einsetzt, kritisiert die Einschätzungen als zu schwach, während die Veteranen-Plattform beanstandet, dass Soldaten als Kriegsverbrecher stigmatisiert würden. »Zu lange standen für niederländische Politiker die Empfindlichkeiten von Veteranen an erster Stelle«, schreibt dazu der Journalist Peter Giesen in der Tageszeitung »Volkskrant«. Der jetzt veröffentlichte Report steht für eine Abkehr von dieser Denkweise. Mehr als 73 Jahre hat es dafür gebraucht.

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