Reflektierte Orthodoxie

Der erste, der zweite und der dritte Atem: Jürgen Harrer wird 80

  • Frank Deppe, Georg Fülberth und André Leisewitz
  • Lesedauer: 5 Min.
Politisches Konditionstraining: der linke Verleger Jürgen Harrer
Politisches Konditionstraining: der linke Verleger Jürgen Harrer

Also die deutsche Linke … Im Lauf ihrer Geschichte war sie immer wieder einmal mausetot. Nach dem Scheitern der deutschen Revolution 1848/49 schien sie ebenso erledigt wie 1933 und in der Adenauerzeit. Auch gegenwärtig sieht sie nicht sehr kräftig aus. Aber dass es sie immer noch gibt, wird man wohl in ein paar Jahren wieder merken, wenn sie sich erholt haben wird. In einigen Blättern ist zum Beispiel von einer »Dritten Welle des Sozialismus« oder einem »Sozialismus 3.0« die Rede. Hoffen wir’s.

Falls sich die Linke also doch als unkaputtbar erweisen wird, werden sich auch Leute finden, die darin eine historische Gesetzmäßigkeit entdeckt haben wollen: Die inneren Widersprüche des Kapitalismus, so heißt es, machten eben immer wieder einmal die Notwendigkeit seiner Überwindung klar, und daraus entstünden Bewegungen, die dies umzusetzen versuchen.

Mag sein. Aber was macht das mit den Menschen, die solchem Auf und Ab ausgesetzt sind? Sie spüren zwischendurch dann doch recht unangenehm die Differenz zwischen biologischer und sozialer Lebenserwartung.

Die erste ist physiologisch bedingt, die zweite durch die gesellschaftlichen Konjunkturen. Nach Niederlagen lebt man weiter, weiß aber dann nicht mehr recht, wozu. Man braucht einen zweiten Atem. Wer den aufbringt, trägt dazu bei, dass wieder von vorn begonnen werden kann. Es ist reizvoll und ermutigend, solchen Biografien nachzugehen.

Reden wir zum Beispiel von dem Verleger Jürgen Harrer.

Er wurde 1942 im Stuttgarter Osten geboren, war in Hamburg im SDS und hörte Heinrich Brandler zu. Der war KPD-Vorsitzender gewesen und kam sein Leben lang nicht darüber hinweg, dass 1923 der deutsche Rote Oktober nicht zustande gekommen war. Von dort ging Harrer - wie damals viele linke Studierende - weiter nach Marburg zu Wolfgang Abendroth.

Er promovierte bei ihm summa cum laude über die mexikanische Revolution, wurde sein letzter Assistent vor der Emeritierung und schließlich Dozent für Politikwissenschaft. Zusammen mit zwei Verfassern der hier vorliegenden bescheidenen Zeilen war er Herausgeber einer »Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung«, die u.a. eine Lücke im internen Bildungsangebot dieser Organisationen schließen half. Kurz: Er befand sich auf einer akademischen Laufbahn.

Die endete 1978. In Hessen gab es bis 1974 keine Berufsverbote, danach aber doch. Sie wurden teils offen, teils verdeckt exekutiert. Als Jürgen Harrer für eine Professur vorgeschlagen wurde, lehnte ein Kultusminister, der vorher Polizeipräsident gewesen war, ihn ab. Es traf sich, dass gleichzeitig das goldene Nachkriegszeitalter des Kapitalismus vorbei war, in dem eine Linkswende der Gesellschaft möglich schien. Schluss mit dem ersten Atem.

Den zweiten schöpfte Jürgen Harrer als Lektor im Kölner Pahl-Rugenstein Verlag (PRV). Dieser, 1957 gegründet, gehörte - wie »konkret« und »Das Argument« - zur publizistischen Basis der Außerparlamentarischen Opposition vor 1968. Sein Flaggschiff waren die »Blätter für deutsche und internationale Politik«, die es sogar schon seit 1956 gab.

Im Pahl-Rugenstein Verlag war gleich ein politischer Sturm zu bestehen. Am Ende der sozialliberalen Ära saß die FDP Helmut Schmidt im Nacken, und je mehr dieser ihr Konzessionen machen musste, desto schwerer fiel es den Gewerkschaften, ihm zu folgen. In der sich anbahnenden Panik galt plötzlich das unschuldige Buch »Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung«, das ja aber schon 1977 erschienen war, als eine der Ursachen dieser Unbotmäßigkeit. Ein Shitstorm brach los, der das gesamte Jahr 1979 über anhielt. Jürgen Harrer im Verlag koordinierte einen Teil der letztlich erfolgreichen Verteidigung.

Dann kam 1989. Die DDR brach zusammen, und das schon lange kolportierte Gerücht, sie habe den Pahl-Rugenstein Verlag finanziert, erhielt neue Nahrung durch dessen Insolvenz. Ende des zweiten Atems.

Der dritte wurde der beste. Bislang hatte Jürgen Harrer in bereits bestehenden Strukturen - der Universität, einem Verlag - seinen Weg gemacht. Jetzt machte er sich an ein Startup: den PapyRossa Verlag. Die in diesem Namen platzierten Großbuchstaben PRV signalisierten Kontinuität, Rossa war ein politisches Signal, in der Summe aber entstand etwas Neues durch das theoretische Profil Jürgen Harrers. Nennen wir es: Reflektierte Orthodoxie. Klar: Gemeint ist der Marxismus.

Zu verstehen sind darunter aber nicht nur die Schriften der historisch-materialistischen Klassiker, sondern auch das, was später daraus gemacht wurde, einschließlich einer gescheiterten Staatspraxis. War etwas falsch, musste es benannt werden, zugleich war zu bergen, was sich noch verwenden ließ.

Diese individuellen Überzeugungen eines Verlegers konnten nicht das ausschließliche Programm seines kleinen Betriebs sein. Der alte Pahl-Rugenstein Verlag war ohnehin kein marxistisches, sondern ein Bündnisprojekt gewesen. Er suchte und fand seine Autor(inn)en und Leser(innen) auch unter Radikaldemokrat(inn)en, Gewerkschafter(inn)en, ja sogar bei aufgeschlossenen Konservativen, die sich Gedanken über Krieg und Frieden machten. In den »Blättern für deutsche und internationale Politik« war 1975 das erste Memorandum der »Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik« erschienen. Daraus sind mittlerweile umfangreiche Bände geworden, die Jahr für Jahr im PapyRossa Verlag herauskommen.

Immer wieder aber fanden Autoren der reflektierten Orthodoxie den Weg dorthin. 2006 gelang PapyRossa ein besonderer Coup. Der Verlag C.H. Beck hatte das Buch »Kurze Geschichte der Demokratie« des italienischen Althistorikers Luciano Canfora, das schon in mehreren Ländern erschienen war, in sein Programm aufgenommen. Er druckte es dann aber doch nicht: Hans-Ulrich Wehler war dazwischengegangen. Das führte zu einem Historikerstreit, in dem sich merkwürdigerweise sogar die »FAZ« auf die Seite von Canfora stellte.

Das Buch erschien dann bei PapyRossa mit einem Nachwort von Oskar Lafontaine. Es ging um den Gegensatz von Demokratie einerseits, Freedom & Democracy andererseits.

Dies war auch ein Thema von Domenico Losurdo, der immer wieder bei PapyRossa publizierte. Von hier aus geht es weiter zur Kritik von Varianten der Mitmachdemokratie als Inszenierungen des Marktes und des Neoliberalismus.

Heute, am 22. Februar, wird Jürgen Harrer achtzig. Immer noch im dritten Atem - deshalb nicht ein Glückwunsch, sondern drei!

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