Zwischen Klarheit und Verklärung

Die Ausstellung »Karl Marx und der Kapitalismus« im DHM bringt uns ein geschichtsmächtiges Erbe näher

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 8 Min.

Es ist ein Ereignis. Allein die Tatsache, dass eine Ausstellung zu Karl Marx an einer prominenten Adresse offeriert wird, ohne sich auf einen Gedenktag beziehen zu können (wie vor vier Jahren zum 200. Geburtstag) macht neugierig. Und weckte Erwartungen.

Eine im Vorfeld der Ausstellung in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage ergab, dass sich über die Hälfte der Deutschen unschlüssig ist, wie sie Marx bewerten soll. 27 Prozent der Befragten sehen ihn positiv, 22 Prozent negativ. Marx ist und bleibt offensichtlich umstritten. Werk und Wirken des hierzulande bedeutendsten Analytikers und Kritikers des Kapitalismus, wie es im Katalog heißt, unter solcher Konstellation allgemein verständlich zu vermitteln, erfordert einige Courage. Galt es doch, Leistungen, Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten, aber auch die Instrumentalisierung seiner Lehren nach dessen Tod gleichermaßen darzustellen.

Wir wissen, dass Marx’ Œuvre fragmentarisch geblieben ist, dass er seine Aussagen - ökonomische wie politische - immer wieder überdacht hat, entsprechend neuer Erkenntnisse und der veränderten gesellschaftlichen Situation revidiert, mitunter sich auch davon verabschiedet hat. Ein Schlüsselwort der Ausstellung, sowohl für Leben und Werk als auch für dessen Kommentierung, ist »ambivalent«. Darin schwingt mit, dass die Präsentation des verehrten oder gehassten Kommunisten sich keiner parteilichen Seite zuneigen möchte. Erst vor diesem Hintergrund kann gefragt werden, was er uns heute sagen, wie er uns heute vielleicht anregen kann.

Es ist dem Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin hoch anzurechnen, dass Marx in einem Land, das den Antikommunismus zur Staatsreligion erkoren hat, von einer objektiven Position betrachtet wird, im Kontext der Geschichte und Ideen des 19. Jahrhunderts, der »historische Marx« sozusagen (den die Wortführer des staatsoffiziellen Marxismus kaum zur Kenntnis nahmen). Die Kuratorin Sabine Kritter und ihr Team haben sich dieser Herausforderung mit Bravour gestellt. Hervorgehoben sei auch die wissenschaftliche Beratung von Jürgen Herres, der viele Jahre an der Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) mitgewirkt hat.

Was ist nun im Pei-Bau des DHM zu sehen und zu erleben? Die Schau gliedert sich nach Themen, die in unterschiedlichen Lebensphasen in den Vordergrund traten. Den Anfang macht die Religionskritik des jungen Marx in Auseinandersetzung mit Hegel und den Junghegelianern. Der bekannte Satz »Kritik der Religion ist Voraussetzung aller Kritik« wird besonders plausibel, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Preußen, die Monarchie in Gottesgnaden, ein durch und durch christlicher Staat war, sodass Religionskritik sofort umschlug in Kritik am Obrigkeitsstaat und an den politischen Verhältnissen.

Der Volksglaube wird durch eine Auswahl von sogenannten Votivgaben gegenständlich vor Augen geführt, Nachbildungen kranker Körperteile, die auf Prozessionen geweiht oder in Kirchen ausgehängt wurden, womit Christen Gott um Hilfe baten oder ihm dankten. Hier wird die Metapher von der Religion als »Opium des Volkes« besonders sinnfällig. Die begleitenden Texte zu den Objekten verdeutlichen auch, wie Marx die Religionskritik auf säkularer Ebene weiterführt zur Kritik an der Entfremdung und des Fetischismus sowohl der Waren als auch des Kapitals. Dass Religion und kapitalistische Gesellschaft ähnlich funktionieren, ist ein aktueller Aspekt, den die Ausstellung vermittelt.

Die Repressionen der Obrigkeit konnten nicht ausbleiben. Eine grandiose Karikatur, von Lorenz Clasen aus Anlass des Verbotes der »Rheinischen Zeitung« 1843 gezeichnet, zeigt Marx als Prometheus an eine verkettete Druckerpresse gefesselt. Ein Adler mit Königskrone hackt auf ihn ein, an der Leine gehalten von dem als Eichhörnchen dargestellten preußischen Kultusminister Eichhorn. Es ist ein intellektuelles Vergnügen, sich in die alten Karikaturen hineinzudenken und hineinzufühlen, wovon eine ganze Reihe gezeigt werden.

In diesen frühen Jahren beginnt Marx, die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« zu schreiben. Eine Originalseite ist ausgelegt. Man staunt jedes Mal über dieses Gekritzel auf engstem Raum - und welcher Geist darin! Auch in den anderen Themenbereichen kann der Besucher Urschriften bewundern: Notizen aus einem Exzerptheft mit der Skizze einer Dampfmaschine, eine Seite aus einem der drei Krisenhefte mit eingeklebten Zeitungsausschnitten und Kommentaren, die erste und einzig erhaltene Seite des »Kommunistischen Manifests«, 2013 in das Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen, liegt als Faksimile vor. Das persönliche Exemplar des »Kapital« Band 1 mit Änderungen für die nächste Auflage. Wann kann man in Berlin schon einmal solche Originale sehen? Sie sind zumeist nur im Karl-Marx-Haus Trier zugänglich oder werden im Internationalen Institut für Sozialgeschichte Amsterdam verwahrt, wo zwei Drittel des handschriftlichen Nachlasses liegen.

Ausführlich ist der Komplex Karl Marx, die Judenemanzipation und der Antisemitismus behandelt. Ein heikles Thema. Marx unterstützt, im Gegensatz zu seinem ehemaligen Freund Bruno Bauer, die politische Emanzipation der Juden. Aber der Zeitgeist, der »die Juden« der Raffgier und Spekulation bezichtigt, hinterlässt in seinem Aufsatz »Zur Judenfrage«, für die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« geschrieben, auch befremdliche Stereotype, die in der Rezeption jener Liberalen bemüht werden, die Marx unbedingt etwas am Zeug flicken wollen und des Antisemitismus bezichtigen. Der »Geldjude« ist zur Mitte des 19. Jahrhunderts allgemeiner Konsens, seit Voltaire über Kant, die Priester aller Länder bis zur Waschfrau. Nicht wahrgenommen wurde, dass die jüdische Diaspora überwiegend in Armut lebte. Dass Marx sein eigentliches Ziel, die Vergötterung und das »antisoziale Element« des Geldes zu kritisieren, paradoxerweise am Gegenstand der Judenemanzipation verdeutlicht, hat ihm viel Ärger eingebracht.

Wenn auf dieses Thema so detailliert eingegangen wird, hängt das mit dem Parallelprojekt »Richard Wagner und der deutsche Geist« zusammen, das ab April präsentiert wird. Beide, Marx und Wagner, waren Protagonisten der 1848er Revolution. Aber während Wagner kräftig ins Horn des Antisemitismus blies und von den Nationalsozialisten in Zeugenschaft genommen werden konnte, beharrte Marx auf der umfassenden Gleichberechtigung der Juden. Seine judenfeindlichen Klischees »nahmen keine tragende Rolle in seinem weiteren Denken ein«, vermerkt Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, im Katalog. Zwar ließ er sich auch in privaten Briefen zu antijüdischen Beschimpfungen hinreißen, etwa wenn er Ferdinand Lassalle einen »schmierigen Breslauer Jud« nennt. Das geht auf das Konto seiner Leidenschaft, die ihn manchmal verführte, bei politischen Gegnern die Contenance aufzugeben und ausfällig zu werden. Schließlich gibt Marx seine eigene Herkunft als »Dorn im Auge« des Christentums, wie Bauer die Juden bezeichnet hat, mit gewissem Stolz zu erkennen, und später prangert er die Unterdrückung der Juden in aller Welt an.

Selbstverständlich wird Marx’ Wirken in der Revolutionszeit und als Chefredakteur der »Neuen Rheinischen Zeitung« ausgiebig gewürdigt. Am Beispiel der Pariser Kommune und der Reflexionen des Londoner Exilanten darüber, welche Chancen ein »gewaltsamer Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung« hat, erklären die begleitenden Texte, wie sich sein Revolutionskonzept ändert und evolutionäre Momente größere Beachtung finden. Etwas unterbelichtet sind die ökologischen Aspekte seines Werkes und ungenannt bleiben die naturwissenschaftlichen Studien. Dafür schöpfen Kuratorin, Projektleitung (Jonathan Sperber, Kati Renner) und Gestalter für den Bereich Neue Technologien, Ökonomie und Krise aus dem Vollen.

Im Mittelpunkt der vielen Exponate steht eine nachgebaute »Spinning Jenny« aus dem Bestand des Museums, jene technische Neuerung zur Herstellung von Garn, die Friedrich Engels in »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« so verständnisvoll beschrieben und wegen deren höherer Produktivität er die Entstehung des englischen Proletariats plausibel gemacht hat. Daneben eine Dampfmaschine für kleine Unternehmen, eine der ersten mechanischen Rechenmaschinen und in einer bis zur Decke reichenden Schauwand Industrieprodukte, die nun massenhaft hergestellt werden konnten. Beispielhaft für die sachkundige Kommentierung die Worte von Sabine Kritter: »Marx sah es als Fortschritt, dass der Kapitalismus die Produktion von Warenreichtum so weit entwickeln konnte wie keine andere Produktionsweise zuvor. Zugleich kritisierte er die zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit, die damit verbunden war und die zu neuer Armut inmitten von Reichtum führte.«

In diesem Bereich das Diagramm von Engels zur Preisentwicklung der Rohbaumwolle, worum Marx gebeten hatte. Im Jahr 1857 führte die in den USA ausgebrochene erste Weltwirtschaftskrise zum Ruin Tausender Firmen. Sie spornte Marx nicht nur an, sich »nun ernsthaft an die Ausarbeitung meiner Grundzüge der Ökonomie zu geben«, sondern auch herauszufinden, wie eine Krisensituation entsteht. Entgegen gängiger Vorstellungen sah er die Krise nicht als Ergebnis der Überspekulation, sondern der Überproduktion. Und er erkannte, dass der Wirtschaftskrise eine Finanzkrise vorausgeht, beziehungsweise umgekehrt, dass eine durch den Welthandel (heute »Globalisierung«) ausgelöste Finanzkrise zu einer Wirtschaftskrise führt. Erinnert uns das nicht an das Debakel von 2007/2008, als nicht nur die deutschen Politiker meinten, die Hypothekenkrise in den USA werde sich auf Europa kaum auswirken? In seinen Korrespondenzen für die »New-York Daily Tribune« (eine Ausgabe mit einem Leitartikel von Marx ist ausgelegt) betonte er die prinzipielle Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. Nachts schrieb er an einem Grundtext für das »Kapital«, dem ebenfalls ein Kabinett gewidmet ist.

Das alles wird umrahmt von zahlreichen bildkünstlerischen Werken, wie Adolf Menzels Skizzen der Stahlarbeiter oder dem großartigen Gemälde »Der Streik« von Robert Koehler sowie von persönlichen Gegenständen, etwa den wunderbaren Porzellanmalereien von Jenny Marx auf Tellern. Im Epilog hebt das Ausstellungsteam noch einmal die Zwiespältigkeit des Erbes hervor. Und - sehr diplomatisch formuliert - dessen Aktualität: »Die gesellschaftlich-kritischen Fragen, die Marx stellte, überdauern nicht nur seine eigene Lebenszeit.« Womit gesagt ist: auch unsere. Und so stehen denn an den Wochenenden die Besucher hier Schlange.

»Karl Marx und der Kapitalismus« im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums, Berlin, Hinter dem Gießhaus 3. Bis 21. August. Onlinetickets: www.dhm.de/marx

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