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Wird die Demokratie enteignet?
Der Senat setzt das Votum Deutsche Wohnen & Co enteignen nicht um
Die Berliner*innen haben sich letztes Jahr für die Vergesellschaftung von Wohnraum ausgesprochen. Doch der Senat setzt das Votum nicht um, kritisiert Freya Stewart von Deutsche Wohnen & Co enteignen.
Katerfrühstück am Fischstand. Die Verkäuferin reicht ein Matjes-Brötchen über den Tresen: »Sag mal, wolltet ihr nicht die Deutsche Wohnen enteignen? Bei dir hab ich unterschrieben!« Ich nicke. Sie schenkt mir Kaffee ein: »Ja, und nu? Wir ham das Ding gewonnen, oder nich? Über ’ne Million Ja-Stimmen! Wat is jetzt damit?«
Beim Bier an der Feuertonne, das wir von der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« neulich nach der Strategiekonferenz getrunken haben, kam diese Frage auch immer wieder auf. Wie ist es möglich, dass wir einen historischen Volksentscheid gewinnen, nur um nach der Regierungsbildung buchstäblich vor dem Roten Rathaus stehen gelassen zu werden, während drinnen der Immobilienlobby Häppchen gereicht werden?
Im Rahmen des »Bündnisses für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen« gab es mittlerweile schon zwei Treffen im Rathaus, zu denen Bürgermeisterin Franziska Giffey unter anderen den Vonovia-Vorstand Rolf Buch und Heimstaden-Geschäftsführerin Caroline Oelmann geladen hatte, deren börsennotierte Unternehmen der Senat enteignen soll.
Schon bei der Pressekonferenz zu ihrem Amtsantritt deutete sich an, wie Giffey mit den 59,1 Prozent der Ja-Stimmen umgehen will. Sie gab nicht etwa bekannt, dass Vonovia zügig vergesellschaftet wird, sondern »dass wir natürlich Kiez sind (….), aber wir sind eben auch Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind Weltstadt.«
Die Veranstaltung war ein großes Hurra für die Gentrifizierung. Dabei ist die Aufgabe auf den Wahlzetteln eindeutig formuliert: »alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien in Gemeineigentum erforderlich sind«. Hat Giffey nicht einmal 100 Tage nach Amtsantritt vergessen, für wen sie arbeitet?
»Der Senat wird eine Expertenkommission einberufen«, sagt am Marktstand ein Mann mit Kinderwagen, »das steht im 100-Tage-für-Berlin-Plan.« Damit hat er recht. Diese Kommission soll ein Jahr lang »prüfen«, was durch etliche Gutachten, unter denen auch Senatsgutachten sind, längst bestätigt ist: die Rechtmäßigkeit der Enteignung großer Immobilienkonzerne. Ferner soll sie, laut Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel, »wirtschaftlich bewerten«, worüber die Berliner*innen längst entschieden haben. Was ist an einem Ja schwer zu verstehen?
Nach dem gewonnenen Volksentscheid geht es jetzt um die Umsetzung. Die versucht der Senat zu verschlampen wie den hässlichen Pullover, den er von Mutti zu Weihnachten bekommen hat. Wird Giffey auf den Volksentscheid angesprochen, rollt sie mit den Augen und sagt im Kindergärtnerinnen-Ton: »Wir werden beizeiten auf die Initiative zugehen.« Bisher warten wir vergeblich auf die Einladung des Senats, seinen demokratischen Auftrag endlich anzugehen.
»Wieso gehen wir wählen, wenn die sowieso machen, was se wollen?«, fragt die Fischverkäuferin. Ja, das sind die Fragen, die mit dem sauren Hering kommen.
Beim Strategiewochenende haben im Februar 170 Aktive der Kampagne aus 13 Berliner Kiezteams beraten, was zu tun ist. WGs aus dem Wedding, Rentner*innen aus Lichtenberg, Steglitz und Reinickendorf, Eltern mit Babys im Wickeltuch, queere Cheerleader, alte Hausbesetzer*innen. Ur-Berliner, Zugezogene. Der Jüngste 18, die Älteste 80 Jahre alt. Wer, wie der »Tagesspiegel«, behauptet, wir seien »gelangweilte Oberschichtskinder«, der war nie auf einem Gesamtplenum.
Über Langeweile konnten wir in den letzten Jahren nicht klagen: Deutsche Wohnen & Co enteignen hat 359 063 Unterschriften auf der Straße gesammelt. Wir haben plakatiert, getextet, gestritten, getagt, gefeiert und demonstriert. Bei der Wahl hatte der Volksentscheid fast dreimal so viel Stimmen wie die Regierungspartei SPD. Wir sind wütend über die Dreistigkeit des Senats. Machtlos sind wir nicht. Giffey unterschätzt Berlin, wenn sie glaubt, ohne die Menschen regieren zu können. Ihr Senat kann uns nicht abwählen und wir sind nicht der Regierung verpflichtet, sondern den 59,1 Prozent.
»Kann sein, dass Wählen allein nicht reicht«, sage ich zu den Leuten am Marktstand. Die Marktfrau gibt eine Runde Kaffee aus. Der Kampf um die Enteignung geht jetzt erst richtig los.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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