- Politik
- Ukraine-Krise
Ein Krieg mit unklaren Zielen
Wladimir Putin überfällt die Ukraine
Eilmeldungen über vorrückende Panzerkolonnen, wacklige Videos von einschlagenden Raketen, explodierenden Munitionslagern und lichterloh brennenden Flughäfen, Menschen, die verängstigt in Metro-Stationen Zuflucht suchen: Millionen Ukrainer riss am frühen Donnerstagmorgen ein russischer Angriff auf ihr Land aus dem Schlaf.
»Ich habe die Entscheidung für eine militärische Spezialoperation getroffen«, erklärte der russische Präsident Wladimir Putin um 5.30 Uhr Moskauer Ortszeit im russischen Staatsfernsehen. Die Operation sei auf den Donbass gerichtet - de facto eine Kriegerklärung an die Ukraine. Den Überfall begründete Putin mit einer angeblichen Schikanierung der Menschen im Donbass, welche seit der Maidan-Revolution vom »Kiewer Regime« unterdrückt würden und »nur noch auf Russland hoffen«. »Sie und ich haben einfach keine andere Möglichkeit, Russland und unser Volk zu verteidigen, als die, die wir heute anwenden müssen«, so der Staatschef in seiner 27-minütigen Ansprache. Die Ukraine müsse nun »demiliarisiert« und »entnazifiziert«, Verbrecher gegen die Zivilbevölkerung vor Gericht gestellt werden. Die ukrainischen Soldaten sollten umgehend die Waffen niederlegen. Es gehe nicht um eine Okkupation des Landes.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Seine Erklärung hatte Putin mit einer Generalabrechnung mit der Politik des Westens der Nato und vor allem der USA eingeleitet. Der »kollektive Westen« betrüge und verstoße permanent gegen »allgemein anerkannte Normen der Moral und Ethik«.
Den Vorwand für den russischen Angriff hatten am Mittwochabend die Anführer der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk geliefert. Denis Puschilin und Leonid Pasetschnik riefen - unter Berufung auf am Montag von der Duma ratifizierte Freundschafts- und Beistandsverträge - Moskau um Beistand gegen einen angeblich kurz bevorstehen ukrainischen Angriff an.
Die vom Kreml nur kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine veröffentlichten Bittbriefe sind allerdings bereits auf den Vortag - Dienstag - datiert. Sie sind somit ein weiterer Hinweis auf die aufwendige Inszenierung einer angeblich spontanen Reaktion Russlands auf ukrainische Provokationen.
Unmittelbar nach Putins TV-Ansprache wurde allerdings klar, dass sich Moskaus Angriff keineswegs auf den Donbass beschränken würde. Ukrainische Internetnutzer teilten Aufnahmen von russischen Militärschlägen auf dem gesamten Territorium ihres Landes. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew waren Explosionen zu hören und Raketen schlugen ein. Am Stadtrand von Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, lieferten sich russische Panzer Gefechte mit ukrainischen Militärs. Auch im westukrainischen Lwiw, 80 Kilometer von der polnischen Grenze, dem zentralukrainischen Saporoschje und Cherson an der Krim gab es Detonationen und brannten Munitionslager. In der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer - mehr als 500 Kilometer Luftlinie vom Donbass entfernt - flogen Industriegebäude in die Luft. Videos aus der an die Donbass-Republiken angrenzenden Hafenstadt Mariupol zeigen deutlich hörbaren Artilleriebeschuss.
Es gehe keineswegs um eine Eroberung der Ukraine, versicherte kurz darauf das russische Verteidigungsministerium. Lediglich die militärische Infrastruktur, Luftverteidigungsanlagen, Militärflugplätze und Flugzeuge der ukrainischen Armee sollten mit »Präzisionswaffen« ausgeschaltet werden. Luftschläge gegen ukrainische Städte gebe es dagegen nicht. Im Internet veröffentlichte Bilder von völlig zerstörten Wohnhäusern in einer Charkiwer Vorort bewiesen das Gegenteil.
Die russischen Truppen fielen indes nicht nur von der ukrainischen Ostgrenze ins Land ein. Videos des ukrainischen Grenzschutzes zeigen, wie eine Panzerkolonne die ukrainisch-belorussische Grenze bei Tschernihiw überquert. Auch von der annektierten Halbinsel Krim aus drang die russische Armee mit Panzern in die Ukraine ein. Nach nur wenige Stunden rückten die russischen Streitkräfte bereits mit Hubschraubern und Grad-Raketenwerfern auf den Stadtrand der Hauptstadt Kiew vor. Die ukrainische Luftabwehr sei außer Kraft gesetzt, meldete das russische Verteidigungsministerium.
Welche Ziele Moskau mit den massiven Schlägen auf dem gesamten ukrainischen Staatsgebiet wirklich verfolgt, bleibt vorerst unklar. Diese Angriffe stehen in klarem Widerspruch zu der von Putin ausdrücklich auf den Donbass beschränkten Spezialoperation - entsprechen aber der nebulösen Ankündigung einer »Demilitarisierung« des gesamten Landes.
Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Zielen konnte auch Kremlsprecher Dmitri Peskow nicht auflösen, als er am frühen Donnerstagnachmittag in Moskau vor die Presse trat. Wie die schwammigen Begriffe »Entnazifizierung« und »Demilitarisierung« zu verstehen seien, wollten die Korrespondenten von ihm wissen. Doch die Antworten Peskows waren wenig hilfreich. Die Ukraine solle »idealerweise befreit und von Nazis gesäubert werden«, beantwortete er die Frage nach der Entnazifizierung. Die von Putin erwähnte Demilitarisierung bedeute die »Neutralisierung der militärischen Fähigkeiten« der Ukraine.
Wesentlich klarer war die Kommunikation der russischen Behörden im Inland. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor warnte russische Medien am Donnerstagnachmittag vor der Verbreitung von Falschinformationen im Zusammenhang mit der »Spezialoperation im Donbass«. Die Zahl diesbezüglicher Fakes habe im Laufe des Donnerstags erheblich zugenommen. Die Verbreitung falscher Nachrichten sei strafbar und könne mit Zahlungen von - umgerechnet - bis zu 52 000 Euro oder der Sperrung von Seiten geahndet werden. In der Berichterstattung über Operationen im Donbass dürften daher nur Informationen und Daten aus offiziellen russischen Quellen verwendet werden.
Wie sich der Kreml solche Erfolgsmeldungen vorstellt, zeigte sich um 16.30 Uhr Moskauer Ortszeit. Zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte die russische Nachrichtenmanufaktur Interfax eine Zwischenbilanz des ersten Kampftages. 74 Objekte der ukrainischen Streitkräfte seien zerstört worden, darunter elf Flugplätze der Luftwaffe, drei Kommandoposten, ein ukrainischer Marinestützpunkt sowie 18 Radarstationen der Luftabwehr. Außerdem habe das russische Militär einen Kampfhubschrauber und vier Bayraktar-Drohnen abgeschossen. Wegen eines Pilotenfehlers sei ein russisches Su-25-Kampfflugzeug abgestürzt, der Pilot sei abgesprungen. Über die Anzahl der umgekommenen Soldaten schwieg sich die Nachrichtenagentur aus. Man habe keine ukrainischen Städte oder Kasernen angegriffen, »um Verluste unter ukrainischen Soldaten und deren Familienangehörigen zu vermeiden«, wird der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, zitiert.
Wesentlich deutlicher waren da die Angaben aus der Ukraine. In den ersten Stunden des russischen Großangriffs wurden nach Angaben Kiews mehr als 40 ukrainische Soldaten und etwa zehn Zivilisten getötet. Dutzende Soldaten wurden zudem durch russische Luft- und Raketenangriffe verletzt. Später seien bei einem Luftangriff auf eine Militärbasis nahe Odessa weitere 18 Menschen getötet worden.
Die ukrainische Armee erklärte zudem, sie habe in der Ostukraine rund »50 russische Besatzer« getötet. Weiterhin meldete die Armee den Abschuss von sechs russischen Militärflugzeugen, einem Hubschrauber und die Zerstörung von vier Panzern.
Die prorussischen Kämpfer in der Ostukraine erzielten nach Angaben aus Moskau erste Geländegewinne. In der Region Donezk rückten die von Russland unterstützten Kämpfer demnach drei Kilometer vor, in Luhansk eineinhalb Kilometer.
Das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation warnte unterdessen vor Anti-Kriegsprotesten in Russland. Aufgrund der angespannten außenpolitischen Lage werde die Teilnahme an unangemeldeten Kundgebungen und anderen rechtswidrigen Handlungen hart geahndet. Bei Zuwiderhandlungen sehe das russische Recht Haftstrafen »für die Organisation von Massenunruhen und Widerstand gegen einen Vertreter der Behörden« vor.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.