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Im Sog des Krieges
Der Angriff Putins hat die Ukraine schlagartig verändert. Selbst weit entfernt von den Kämpfen
Kämpfen, bleiben oder flüchten? Auch Hari, gebürtig aus Indien, beschäftigte sich mit dieser Frage, schon lange bevor der Krieg begann. Viele Wochen warnten schließlich US-Geheimdienste vor einer großflächigen russischen Invasion. Dass aber wirklich bald Raketen auf Kiew fliegen würden, dass Panzer aus allen Seiten Richtung Hauptstadt fahren würden, das hielten die meisten in diesem Ausmaß nicht für möglich. Hari, der Mittdreißiger im westukrainischen Uschgorod, hatte allerdings eine dunkle Vorahnung.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
»Ich rechne mit einer Invasion, entweder in einen kleinen Teil der Ukraine oder sogar mehr«, sagte Hari bei Kaffee und Krapfen in einem der hippen Cafés der Stadt, zwei Tage vor Kriegsausbruch. Kiew ist mehr als 800 Kilometer entfernt, hier in den Transkarpaten nahe der Grenze zur Slowakei und Ungarn fühlt man sich vergleichsweise sicher. Die Bars und Gasthäuser sind gut gefüllt, man sieht kaum Soldaten im Straßenbild, und in der großen Markthalle herrscht reges Treiben. Und doch ist der Krieg in den Köpfen der Menschen seit Wochen allgegenwärtig.
Hari hat den russischen Überfall kommen sehen. Längst ist das Land zu seiner Heimat geworden, er spricht fließend Ukrainisch und ist seit 2013 hier. Damals kam er zum Medizinstudium nach Luhansk, denn in Indien gibt es viel zu wenige Studienplätze. Noch im selben Jahr begann der Euromaidan-Aufstand, den Präsident Wiktor Janukowitsch mit Gewalt niederschlagen wollte. Doch der Umsturz war erfolgreich. Direkt danach jedoch, 2014, folgten die Annexion der Krim durch Russland und die Abspaltung der beiden selbst ernannten Volksrepubliken im Donbass, regiert seitdem von Marionetten Moskaus. Seitdem tobt im Osten des Landes Krieg mit mehr als 14 000 Toten auf beiden Seiten, der immer wieder aufflammte, vom Rest der Welt aber über Jahre vergessen wurde.
Nicht von Hari, dessen Studienort Luhansk heftig umkämpft war. »Manche meiner indischen Kollegen wurden 2014 auf offener Straße erschossen - wegen ihrer Hautfarbe oder weil sie ausgeraubt wurden«, erzählt er. Die indische Botschaft empfahl damals allen Studierenden, die Region zu verlassen. Hari ging erst mal nach Kiew, dort war es sicher. Er fragte sich schon damals: Sollte er bleiben oder gehen? Und entschied sich, der Westukraine eine Chance zu geben. In Uschgorod studierte er weiter, was er nicht bereute. Längst hat er Wurzeln geschlagen, eine Stelle in der Onkologie angenommen, wieder gekündigt, eine Ukrainerin geheiratet. Alles lief gut, seinen neuen Job als Profifotograf genießt er. Bis der Krieg losgeht.
Kurz nach den ersten Raketen am frühen Donnerstagmorgen vor einer Woche ist es noch gespenstisch still in Uschgorod. Die Vögel zwitschern, Tau tropft von den Dächern, ein paar Frühaufsteher spazieren durch die längste Lindenallee Europas, pittoresk am Fluss Usch gelegen. Doch viele hängen in dieser Nacht durchgehend am Handy, wo in Echtzeit Meldungen über Raketentreffer und Verletzte aufploppen. Wer zu den Glücklichen zählt und schlafen kann, wird in einem Land im Krieg aufwachen.
Der Hüne Yura weiß, was er dann tun wird. Bis kurz nach Kriegsbeginn machte der frühere Kollege von Hari seine Schichten auf der Onkologie und holte danach seine Kinder von der Tagesbetreuung ab, alles wie immer. Aber einen Unterschied gibt es doch: Yuras gepackter Rucksack steht im Flur. Wenn er einen Anruf bekommt, muss er binnen zwei Stunden zum örtlichen Armeehauptquartier. Yura ist zwar alles andere als ein Waffennarr, er hat sich aber schon vor drei Jahren bei der Armee gemeldet. Als Reservist.
Er wolle sein Land und dadurch auch seine Familie verteidigen, sagt er. »Meine Frau findet das ganz und gar nicht gut, aber sie versteht mich.« Dass es dazu schon zwei Tage später kommen würde, hat er nicht geahnt. Für Yura heißt es, Frau und Kinder zu verlassen. Wo er eingesetzt wird, hat er bei unserem Gespräch noch nicht gewusst. Er hofft bis zuletzt, auch in der Armee als Arzt arbeiten zu können, da tauge er mehr als an der Front: »Ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand«, sagt er.
Wenn Yura aus dem Krieg zurückkehrt, kann er im alten Job weiterarbeiten. So ist es gesetzlich geregelt. Seinen Kollegen und dem ärztlichen Leiter hat er kürzlich erzählt, in der Reserve zu sein. Alle waren ziemlich überrascht. Pläne für den Kriegsfall, etwa kurzfristig umstellbare Dienstpläne, habe es wenige Tage vor Kriegsbeginn noch nicht gegeben, sagt Yura.
Seine Frau und die beiden Kinder wollen vorerst bleiben. »Hier in den Transkaparten ist es einigermaßen sicher. Eindringlinge müssen erst die Berge überqueren, das kostet Zeit. Allerdings können die Raketen im Schwarzen Meer bis hierher schießen«, sagt Yura. Momentan sind jedoch alle Kampfhandlungen weit entfernt, es gibt aber Gerüchte von russischen Drohnen und als Zivilisten verkleidete Spähtrupps in der Stadt. Sollten die Kampfhandlungen näherrücken, wird seine Familie wohl flüchten, wahrscheinlich in die Slowakei. Der größte Übergang entlang der 100 Kilometer langen Grenze in die Slowakei liegt direkt in Uschgorod, ist also schnell erreichbar, wenn auch überlaufen.
Anders sieht es Anastasia, die von Anfang an bleiben wollte. Schon seit Wochen rufen Freunde aus Kiew an und fragen, erst noch hypothetisch, ob sie im Fall des Falles bei ihr unterkommen können. Sie können und werden, das Haus ist groß und es gibt genug Platz. Knapp 20 Freunde und deren Familien habe sie mittlerweile aufgenommen, erzählt sie eine Woche nach Kriegsbeginn. Seitdem habe sie kaum eine Minute geschlafen und kümmere sich um die neuen Mitbewohner. Sechs von ihnen sind derzeit Corona-positiv. Anastasia kümmert sich um sie, sammelt Decken, Medikamente, Verbände für andere Bürger Uschgorods und versucht, nicht zu viel an ihre Großmütter in Kiew zu denken: »Sie wollen dort bleiben, egal was kommt.«
Schon vor dem russischen Überfall hinterließ das monatelange Bedrohungsszenario Spuren, erzählt sie. Ihre beiden Söhne, fünf und 16 Jahre alt, hatten seit Wochen Angst und konnten kaum noch schlafen. Der Kleinere verstehe die Zusammenhänge nicht, sagt Anastasia. »Aber er spürt, dass wir Eltern gestresst sind.« Trotzdem wollte Anastasia, sie arbeitet als Ernährung- und Bewegungscoach, bis zuletzt ihren Alltag beibehalten. Der Fünfjährige hatte am Tag vor Kriegsbeginn Geburtstag, zu Hause war eine kleine Party mit Freunden geplant. Und am Freitag sollte es eigentlich nach Dnipro gehen, zu einem Inlineskating-Wettbewerb. Auch wenn viele Eltern schon nervös werden, ob das wirklich schlau ist, denn die Millionenstadt ist nur 300 Kilometer vom Donbass entfernt. Diese Frage sollte sich aber nicht mehr stellen.
Mitten in der Stadt beantwortet Vlasta pausenlos Anrufe. Ihr Büro liegt in einem baufälligen Sowjetgebäude, in dem auch diverse Büros der Stadtverwaltung untergebracht sind. Vlasta arbeitet in der Organisation »Freiwillige von Transkarpatien«, einem Verbund von 64 kleineren Nichtregierungsorganisationen. Sie kümmern sich etwa um seelisch und körperlich verwundete Kriegsveteranen, helfen ihnen bei der Wiedereingliederung. Momentan aber dreht sich alles darum, die aktiven Streitkräfte zu unterstützen.
Etwa Bandagen, Bettwäsche, warme Kleidung werden gerade akut gebraucht. Vlasta oder eine ihrer Kolleginnen bringt die Sachen fast täglich zum Stützpunkt der 128. Brigade, nicht weit von Uschgorod. Dort sagt man ihr auch, was gerade benötigt wird.
»In den letzten Wochen waren alle sehr aktiv, jeder will etwas tun«, sagt Vlasta zwischen zwei Anrufen. Hinter ihr stehen drei Beatmungsgeräte, die für die Post-Covid-Reha von Veteranen zum Einsatz kommen sollen. Die Einrichtung des schmucklosen Büros, von der Kaffeemaschine bis zum Drucker, stammt von US Aid, dem größten Geldgeber der Organisation.
Den russischen Angriff findet sie »alles andere als überraschend«. Vlasta hatte bereits ab 2014 an der Front in der Ostukraine geholfen, etwa Essen ausgegeben und die Logistik koordiniert. Wenn es nötig wird, will sie diesmal gar zur Waffe greifen. »Ich habe keine Angst.« Für die Kinder sei gesorgt, die beiden älteren kümmern sich um ihre kleine Schwester.
Auch ihr Mann war damals in Luhansk, als Soldat. Kurz nachdem russische Truppen - erst in Form von »grünen Männchen« ohne Hoheitsabzeichen - einmarschierten und kleinste Flächengewinne mit großem Blutzoll erlangten. Dort wurde er verletzt, sagt sie den Tränen nahe, ohne konkreter zu werden.
Seitdem müsse sie für ihn sorgen, und für ihre drei Kinder. An diesem Morgen, einen Tag vor Kriegsbeginn, ist ihr kriegsversehrter Mann zum Büro der lokalen Streitkräfte gefahren. Um ihnen zu sagen, dass er zur Verfügung steht und wieder kämpfen will.
Als der russische Angriff begann, blieb der frühere Onkologe und jetzige Hochzeitsfotograf Hari zunächst nüchtern und wog die möglichen Optionen ab. Seine Frau wollte bleiben, da auch ihre Eltern in der Gegend leben. Auch Hari wollte erst nicht weg, sein ganzes Leben ist in Uschgorod. Er wolle zwar nicht als Soldat kämpfen, sich aber dennoch einbringen, er habe ein Diplom und Erfahrung als Notfallmediziner. »Da wäre ich viel nützlicher als an vorderster Front.«
Als sich aber die Brutalität Russlands abzeichnet und die Grenzübergänge binnen kürzester Zeit verstopfen, hat sich die Familie doch für eine Ausreise entschieden, bevor es zu spät sein könnte. In den nächsten 48 Stunden wird ein Auto der Botschaft kommen und alle nach Budapest zum Flughafen bringen. Von dort geht es über Dubai auf die andere Seite der Welt nach Indien.
Erst werden sie bei Haris Eltern wohnen, dort ist Platz. Als Fotograf könne er immer Arbeit finden, sagt er, seine Frau so ganz ohne Sprachkenntnisse jedoch nicht. Hari aber hofft auf eine baldige Rückkehr nach Uschgorod, sobald es wieder sicher ist. »Meine Freunde, meine Arbeit, alles ist hier«, sagt er kurz vor der Abreise.
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