Die Unterscheidungen sind das Problem

Die Ukrainer*innen sollen nun zu »unserem« Europa gehören - damit wird eine lange rassistische Geschichte der Ein- und Ausschlüsse fortgeschrieben, die immer neue Ziele findet

  • Robert Heinze
  • Lesedauer: 6 Min.

In der medialen Berichterstattung über Geflüchtete aus der Ukraine drängte sich ein Topos in den Vordergrund, den man in den Jahren davor eigentlich nur von White Supremacists gehört hatte. Plötzlich sprachen Reporter*innen, Politiker*innen und Kommentator*innen davon, die Ukraine sei Europa und kein »Dritte-Welt-Entwicklungsland«. Ukrainer*innen seien »relativ zivilisiert«, »blond, blauäugig« und »wohlhabende Mittelklasseleute«. Gleichzeitig häuften sich die Meldungen, dass afrikanische und indische Studierende in der Ukraine davon abgehalten wurden, in Züge zu steigen oder nicht über die polnische Grenze gelassen wurden und wenn, dann teilweise von faschistischen Milizen attackiert wurden.

Diese Unterscheidungen und rassistischen Trennungen wurden in den Medien und sozialen Medien scharf kritisiert. Es gibt aber ein Problem mit dieser Kritik: Indem sie betont, es müsse egal sein, ob Flüchtlinge europäisch, weiß, christlich oder eben nicht seien, behält sie den Unterschied bei, den Rassist*innen zwischen Ukrainer*innen und anderen Flüchtlingen machen. Es ist ein Fehler zu denken, Ukrainer*innen würde geholfen und es würde sich mit ihnen solidarisiert, weil sie tatsächlich weiß, europäisch oder christlich sind, das heißt: im Sinne einer außerhalb des Diskurses stehenden biologischen Realität.

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Davor, Rassisten so beim Wort zu nehmen und damit die »biologische Spur« zu übernehmen, die auch in einem sich als »Rassismus ohne Rassen« ausgebenden kulturalistischen Rassismus verbleibt, warnten Stuart Hall und Étienne Balibar bereits vor dreißig Jahren. Hall prägte dafür den Ausdruck, »Rasse« sei ein »gleitender Signifikant«, eine Diskursformation, die sich historisch ständig wandelt und als Bezeichnendes immer neue Bezeichnete findet. Wenn wir das nicht zum Ausgangspunkt unserer antirassistischen Arbeit machten, verbleibe darin ein Rest der »biologischen Spur«: »Obwohl die genetische Erklärung für soziales und kulturelles Verhalten oft als rassistisch verurteilt wird, leben genetische, biologische und physiologische Definitionen von ›Rasse‹ in unserem Alltagsbewusstsein weiter.« Der Status des Weißseins (des Europäer*in-Seins, des »Zivilisiert«-Seins) ist aber historisch höchst zufällig. Er wurde ukrainischen Flüchtlingen gerade erst anerkannt und kann auch schnell wieder aberkannt werden.

Selbst jetzt tut sich insbesondere die konservative britische Regierung schwer damit, ukrainische Flüchtlinge solidarisch aufzunehmen. Zu offensichtlich ist der Unterschied zwischen ihrer jahrelangen rassistischen Hetze gegen osteuropäische Migrant*innen und dem plötzlich gewonnenen Status der Ukrainer*innen als Europäer*innen. Der aggressive Rassismus, der sich derzeit über als »russisch« identifizierte in Deutschland lebende Menschen ergießt, zeigt deutlich, wie sich rassistische Konstellationen jeweils aktuellen Situationen anpassen. Die Kategorien bewegen sich, sie verändern sich aber nicht - der Signifikant »gleitet«.

Dass Ukrainer*innen als »die guten Flüchtlinge« unproblematisch aufgenommen werden, ist mittelfristig keineswegs gesichert. Unter der erstmals aktivierten Massenfluchtrichtlinie genießen sie nur vorübergehenden Schutz für zunächst ein Jahr, verlängerbar auf drei Jahre. Einzelne Länder können entscheiden, darüber hinauszugehen. Irland hat ihnen bereits denselben Status zuerkannt wie EU-Bürgern). Dies nicht gleich zu kritisieren und die rassistischen Kategorisierungen nicht als solche zu attackieren, führt dazu, dass Linke dem rassistischen Diskurs hinterherlaufen. Dabei können uns Hall und Balibar helfen, eine Analyse und Praxis zu entwickeln, die es erlaubt, dem rassistischen Diskurs voraus zu sein.

Der Rassismus, der sich in den Aussagen so vieler Medien äußerte, ist nach Balibar ein »Neorassismus«, der zunächst nicht die »Rasse« zu naturalisieren scheint, sondern den Rassismus selbst: diese Flüchtlinge sind »uns« kulturell angeblich näher, also ist es nur »natürlich«, ihnen eine Solidarität entgegenzubringen, die den »Anderen« verwehrt bleibt. Wie Rassismus ein »gleitender Signifikant« ist, ist auch Europa (ob als politische und soziale Einheit oder als »Kulturraum«) kontingent und produziert ständig neue Ausschlüsse im Einschluss.

Eine Äußerung des wie er selbst aus der Karibik stammenden britischen Historikers C.L.R. James aufgreifend, er fühle sich »in, aber nicht von Europa«, reflektierte Hall über den »Mythos« Europa: »›Unsere gemeinsame europäische Heimat‹ ist für einige immer noch mehr eine Heimat als für andere, wie Pol*innen, Bulgar*innen, Kosovar*innen, Albaner*innen und andere aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die an den Toren Europas Einlass verlangen, bezeugen können. [...] Tausende jener, die sich jede Nacht am Eingang des Kanaltunnels auf vorbeifahrende Eurostar-Züge schwingen, kommen aus diesem ›anderen‹ Europa, von dessen Differenz ›die Idee von Europa‹ immer abhing.«

Solche Diskurse, auch das zeigen Hall und Balibar, sind nicht von den historisch-materiellen Bedingungen zu trennen, innerhalb derer sie auftreten. Es gibt überhaupt nur so viele Studierende aus Afrika und Asien, weil ukrainische Universitäten (die bereits zu Sowjetzeiten aktiv Studierende aus der Dritten Welt ansprachen) in den letzten Jahren mit relativ einfachen und billigen Visaprozessen, Möglichkeiten zum Daueraufenthalt, niedrigen Lebenshaltungskosten und einem hohen Standard der Ausbildung als Tor zum europäischen Arbeitsmarkt galten.

Die Bemerkung des britischen Immigrationsministers Kevin Foster auf Twitter, Ukrainer*innen könnten ja als »Saisonarbeiter*innen« kommen, deutet dagegen auf die Klassengrundlage des Rassismus hin. Diese zeigt sich auch aktuell in der Behauptung, es kämen jetzt vor allem gut gebildete Angehörige der Mittelklasse - als ob unter Spargelstecher*innen in Deutschland, die noch vor einem Jahr wochenlang in Arbeitsquarantänen eingesperrt wurden, nicht auch viele Studierende gewesen wären, und als ob afrikanische und indische Studierende - oder insgesamt viele unter jenen Flüchtlingen, die überhaupt den Weg nach Europa unternehmen können - nicht zur Mittelklasse gehörten. Auch die politisch, ökonomisch und institutionell beweglichen Grenzen Europas spielen in diesen Kategorisierungen eine Rolle: das Anheuern von Ukrainer*innen auf deutschen Spargelfarmen war auch ein Effekt der Reform der EU-Entsenderichtlinien 2018, die das Lohndumping innerhalb der EU erschwerte.

Es muss also darum gehen, die Kontingenz rassistischer Zuschreibungen anzuerkennen und ihre materiellen Grundlagen ebenso wie ihre Eigendynamik in den Blick zu nehmen. Die Form des rassistischen Diskurses bleibt relativ gleich. Selbst in der Verschiebung, die Hall und Balibar bereits in den 80er Jahren bemerkten - die Verschiebung von biologistischen hin zu kulturalistischen Argumenten - verbleibt im Rassismus immer ein biologistischer Restbestand, der sich aus der Tatsache speist, dass er im Gegensatz zu anderen Ideologien besonders wirkmächtig ist, »weil er in solchen rassisierten Merkmalen wie Hautfarbe, ethnische Herkunft, geografische Position etc. etwas entdeckt, was andere Ideologien erst aufbauen müssen: eine offenbar ›natürliche‹ oder universelle Basis in der Natur selbst.« Das Ziel aber wird immer wieder neu definiert: der Signifikant gleitet.

Deswegen muss an ihm, dem Signifikant »weiß«, »schwarz«, »osteuropäisch« usw. selbst, angesetzt werden, statt an seinen Zielen. Nach Hall »müssen wir erforschen, auf welche Weise rassistische Ideologien konstruiert und unter welchen historischen Bedingungen sie eingesetzt wurden«. Die aktuelle »Eingemeindung« der Ukrainer*innen in die »weiße«, »zivilisierte«, »europäische« Welt - egal mit welchen Argumenten sie geschieht - sollte daher nicht als Bestätigung existierender rassistischer Unterscheidungen gesehen werden. Stattdessen sollte die ihr zu Grunde liegende Verschiebung der geostrategischen, imperialistischen und ideologischen Karte Europas ernst genommen, und unsere Analysen sollten entsprechend angepasst werden.

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