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- Skiflug-WM in Vikersund
Noch vier Leben sind übrig
Nach seinem Horrorsturz kehrt Daniel-André Tande auf die Skiflugschanze zurück – und das gleich bei der Heim-WM
Vor vier Jahren hat sich Daniel-André Tande in Oberstdorf zum Weltmeister im Skifliegen gekrönt. Vor 15 Monaten gewann er mit seinen norwegischen Kollegen zum dritten Mal in Serie WM-Teamgold auf den größten Schanzen der Welt. Dennoch ist es ein wahres Wunder, dass einer der größten Flugkünstler der Geschichte ab Donnerstag bei den Skiflug-Weltmeisterschaften in Vikersund in seiner Heimat antreten will.
»Ich kann versprechen, dass ich es zumindest versuchen werde«, sagte Tande am vergangenen Sonntag nach seinem Sensationssieg beim legendären Holmenkollenspringen von Oslo. Es wird diesen unglaublich mutigen Mann schließlich eine Menge Überwindung kosten, sich vom »Monsterbakken« von Vikersund zu stürzen - von der größten Schanze der Welt.
Sein bis dato letzter Absprung von einer solchen Skiflugschanze hatte sein Ende in einer Tragödie gefunden. Daniel-André Tande stand nach seinem Horrorsturz am 25. März 2021 auf der gigantischen Anlage von Planica an der Schwelle zum Tod. Drei lange Minuten soll kein Puls mehr bei ihm zu fühlen gewesen sein, Tande musste wiederbelebt werden. Er wurde intubiert und seine Lunge punktiert. Er erlitt Hirnblutungen und brach sich das Schlüsselbein. Um sein Gehirn zu entlasten, versetzten ihn die slowenischen Ärzte in ein künstliches Koma, aus dem er erst nach vier Tagen wieder erwachte.
So gut wie jeder andere Mensch hätte in diesem Moment wohl aufgegeben und sich weniger lebensgefährlichen Beschäftigungen gewidmet, doch Tande hatte nach dem Aufwachen eine andere Idee. »Vom ersten Moment an habe ich mich gefragt, wann ich wieder springen kann. Ein Rücktritt stand nie zur Debatte«, erzählte der heute 28-Jährige zum Jahreswechsel während der Vierschanzentournee.
Der auch als Model gefragte Sportler hätte, auch ohne Skispringer zu sein, ein gutes Auskommen haben können, doch für ihn gab es keine Alternative zu seiner großen sportlichen Liebe. Um den Sturz zu verarbeiten, schaute er sich immer wieder das schreckliche Video seines Überschlags in der Luft samt harter Landung auf dem Aufsprunghang an. Tande wollte einfach wissen, was er an diesem Tag falsch gemacht hatte.
Das brachte ihm nicht nur in der Fliegerszene pure Bewunderung ein. »Dass er sich diesem Erlebnis so offensiv gestellt hat, ist unglaublich stark. Jeder andere hätte versucht, das möglichst weit auszublenden«, sagt Sven Hannawald. Der Deutsche, selbst zweimal Skiflugweltmeister, erinnert sich an ein ähnliches Erlebnis in seiner Karriere: »Mich hat es beim ersten Skifliegen in Oberstdorf 1995 in der Luft rumgedreht und ich hatte keinerlei Verlangen, mir diese Szenen jemals wieder reinzuziehen.«
Tande jedoch stieg fünf Monate nach dem Beinahe-Todessturz erstmals wieder auf eine kleine Schanze. Mama Trude, sein größter Fan, war mit dabei. Sie hatte ihrem geliebten Sohn ihr Okay gegeben. Und sie war auch dabei, als diese Geschichte, die besser als jeder Hollywoodfilm daherkommt, ihr vorläufiges Happy End erlebte. Am Sonntag siegte ihr Sohn beim Weltcup in Oslo. »Das ist völlig krank, das ergibt keinen Sinn. Besser wird es nicht mehr«, sagte Tande danach und weinte an der Schulter seiner Mutter.
Dass er überhaupt wieder die Rückkehr in die Weltelite geschafft hatte, war schon ein Wunder. Nun sogar ganz oben zu stehen, ein noch größeres, »Das war einer der größten Momente für die Springerfamilie, viele waren zu Tränen gerührt«, berichtete sein Trainer Alexander Stöckl. Auch der aktuelle Skiflugweltmeister Karl Geiger verneigte sich vor Tande: »Du hast den Berg gerockt.«
Dieses kaum zu fassende Comeback mag damit zu erklären sein, dass der Norweger schon viele solcher Erlebnisse hatte. Als Neugeborener hörte sein Herz einmal auf zu schlagen. »Ich bin nach einer Impfung mit Quecksilber, das man damals verwendet hatte, fast gestorben. Dann wurde ich mit 13 von einem Auto angefahren«, erzählte Tande einmal der »Bild«. 2018 erkrankte er zudem am seltenen Stevens-Johnson-Syndrom, bei dem das Immunsystem die eigenen Körperzellen angreift. Und schließlich dieser schreckliche Sturz. »Man sagt doch: Eine Katze hat neun Leben. Ich hab also noch vier übrig«, nimmt Tande diese Pechsträhne längst mit Humor.
Nun wird er sich aller Voraussicht nach diese riesige Schanze von Vikersund herunterstürzen. Eine unglaubliche Leistung, zumal Daniel-André Tande einmal zugegeben hat, dass er vor jedem Sprung seine Höhenangst überwinden muss: »Die überfällt mich immer, wenn ich oben auf der Schanze sitze und runterschaue.« Was ihn diesmal dort erwartet, weiß Tande natürlich noch nicht. Aber vielleicht wird es nach dem Nahtoderlebnis von Planica ja die nächste Goldmedaille. Hollywood lässt grüßen.
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