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Tödliche Machtkämpfe

Jörg Kronauer skizziert in »Der Aufmarsch« die Vorgeschichte des Krieges um die Ukraine

  • Jörn Kronauer
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Sirenen heulten, rissen die Menschen aus dem Schlaf, als die ersten Raketen und Marschflugkörper auf ukrainischen Flugplätzen und in ukrainischen Militäranlagen einschlugen. Explosionen dröhnten, Rauchsäulen stiegen auf; und das Schlimmste: Umgehend waren die ersten Toten und Verletzten zu beklagen. Als dann der Tag anbrach, breitete sich eine Schockwelle über die Welt aus: In Europa tobte fast 23 Jahre nach dem Nato-Angriff auf Jugoslawien wieder ein offener Krieg.

Moskaus Krieg gegen das Nachbarland kam nicht unangekündigt, doch für viele unerwartet. Die Vereinigten Staaten hatten seit November 2021, gestützt auf Geheimdienstinformationen, regelmäßig gewarnt, die russischen Streitkräfte könnten in das Nachbarland einmarschieren - womöglich im Januar 2022, hieß es zunächst, bevor Washington sich auf den 16. Februar festlegte, an dem dann allerdings nichts geschah.

Handelte es sich einmal mehr um eine US-Propagandakampagne gegen Moskau? Oder war an den Warnungen doch etwas dran? Sogar die Regierung der Ukraine schien mit Letzterem nicht wirklich zu rechnen. Während etwa Kiews Botschafter in Berlin Düsterstes prophezeite, um dort Zusagen für Waffenlieferungen zu erhalten, wiegelte Präsident Wolodymyr Selenskyj ab. Die Gefahr einer russischen Invasion sei »nicht größer« als zuvor, urteilte er Mitte Januar: »Größer ist nur der Rummel um sie geworden.« Noch am 22. Februar beschränkte er sich auf eine Teilmobilmachung, mit dem ausdrücklichen Hinweis, er halte eine Generalmobilmachung nicht für nötig. BND-Präsident Bruno Kahl wiederum wurde in der Nacht auf den 24. Februar in Kiew von dem russischen Angriff überrascht. Auch wenn gewöhnlich bestinformierte Kreise offenbar nicht damit gerechnet hatten: Washington hatte also doch recht gehabt ...

Nicht nur mit Russland, auch mit China befindet sich der Westen schon seit Jahren in einem erbittert geführten Machtkampf. Die komplexen Konflikte im Südchinesischen Meer, Chinas wirtschaftliche Einflussgewinne auf der Neuen Seidenstraße, seine mittlerweilerecht starke Position auf dem afrikanischen Kontinent: Das sind Themen, die in den vergangenen Jahren immer wieder Wellen geschlagen haben. Auch der Machtkampf des Westens gegen China spitzt sich kontinuierlich zu, auf allen Ebenen: Er wird mit Mitteln des Wirtschaftskriegs ausgetragen; er wird propagandistisch unterfüttert; und er umfasst in rasch wachsendem Ausmaß auch den Aufbau gefährlicher militärischer Drohpotenziale. Wie der Machtkampf gegen Russland bis zum 24. Februar 2022 weist er klare Parallelen zum früheren Machtkampf zwischen dem transatlantischen Westen und dem sozialistischen Osten auf, zum Ersten Kalten Krieg.

Dabei unterscheidet sich der Machtkampf zwischen dem Westen und China von demjenigen zwischen dem Westen und Russland prinzipiell. Russland ist eine Macht, die letztlich eine Position vergleichbar derjenigen der Sowjetunion anstrebt; es ist eine Position aus dem 20. Jahrhundert, und von Verfechtern der westlichen Vorherrschaft wird Russland deshalb gern als »revisionistisch« gescholten. China wiederum ist auf dem Weg, zu der Geltung zurückzukehren, die es bis Anfang des 19. Jahrhunderts innehatte, als die Kolonialmächte begannen, nach Weltherrschaft zu streben; ihnen fiel damals auch das Reich der Mitte zum Opfer. Chinas Rückkehr auf die Weltbühne ist keine Rückkehr ins 20. Jahrhundert; sie ist mit einer viel weiter reichenden Umwälzung der globalen, bis heute durch die Kolonialära geprägten Verhältnisse verbunden. Auch damit hat es zu tun, dass der Machtkampf gegen China für den Westen letztlich wohl eine höhere Bedeutung als der Machtkampf gegen Russland hat. Er könnte, davor warnen nicht zuletzt US-Militärs, in einen Weltkrieg eskalieren.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus der Einleitung von Jörg Kronauers Buch »Der Aufmarsch - Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen« (Papyrossa, 207 S., br., 22 €).

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