Je älter, umso linker

Zum 100. Geburtstag des Entspannungspolitikers Egon Bahr

  • Jutta Grieser
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt Fotos, die wegen ihrer Eindringlichkeit überdauern, obgleich sie selbst im Moment der Aufnahme Rätsel aufgeben. Ein solches Bild zeigt die SPD-Bundestagsfraktion im Mai 1974. Fraktionschef Herbert Wehner - neben ihm sitzt ein in sich gekehrter Brandt - ruft stehend in den Raum: »Willy, wir lieben dich!« Und man sieht auch Egon Bahr, wie er die Hände vors Gesicht schlägt. Ist es der Schmerz über den Rücktritt des Kanzlers, seines langjährigen Freundes aus gemeinsamen Tagen in Westberlin? Sorge um seine eigene Zukunft als Staatssekretär im Bonner Bundeskanzleramt?

Erst Jahrzehnte später werden die Gründe für diese auffällige Gefühlsregung bekannt. Aus Bahrs Bekundungen wie eben auch aus den Untersuchungen von Historikern. Der Deutschlandpolitiker versteckte seine Enttäuschung über Wehners gebellte Liebeserklärung, weil er sie als unverschämte Heuchelei empfand: Wehner hatte mit Sticheleien (»Der Herr badet gerne lau«) und Intrigen maßgeblich zum Sturz des eigenen, sozialdemokratischen Kanzlers beigetragen, DDR-Spion Guillaume allenfalls den Anlass geliefert. Die Wehner-Linie, so die Wissenschaftler, hatte in der Ostpolitik über die Brandt/Bahr-Linie gesiegt.

Wehner setzte auf den kontinuierlichen Ausbau der Beziehungen zu allen osteuropäischen Ländern, besonders zur DDR, um deren Blockbindungen zu lockern. Hingegen favorisierte Bahr die Verbesserung des Verhältnisses zu Moskau, er wollte das Zentrum verändern, nicht erst die Peripherie. Für ihn besaß Breshnew den Schlüssel zur Klärung der deutschen Frage, nicht Honecker. Damit lag er gewiss richtig, er wusste, wer Koch und wer Kellner war. Diese Politik lebte nicht nur von Bahrs geheimen Kanälen nach Moskau (»back channel«), sondern auch von entspannten Begegnungen: Wir kennen die Fotos der Raucher Brandt und Breshnew auf einem Boot vor der Krim-Küste oder beide lachend untergehakt im Mai 1973 ...

Bahr blieb bis zu seinem Tod 2015 im politischen Geschirr. Er litt, mal mehr, mal weniger, an seiner »Scheiß-Partei« (wie er die SPD gelegentlich wütend nannte). Doch die wusste, was sie an ihm hatte und stellte ihm bis zum Ende seiner Tage ein Büro mit Sekretärin im Berliner Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale. Doch die Summe seiner Erfahrungen und Kenntnisse veränderten ihn. In einem Interview mit dem »neuen deutschland« im November 2014 zitierte er Brandt mit dem Satz: »Je älter ich werde, umso linker werde ich.« Und fügte hinzu: »Wenn ich sehe, wohin dieser Kapitalismus treibt, habe ich das Gefühl, dass es bei mir ähnlich ist.«

Solche und ähnlich ehrliche Bekundungen finden sich in einem Buch, das soeben in der Edition Ost herauskam. Die Publikation unterscheidet sich von den anderen Veröffentlichungen, die jetzt zu Bahrs 100. Geburtstag erschienen sind. Im Zentrum des Bandes steht Bahrs ungewöhnlicher Schriftwechsel mit dem Schauspieler Lutz Riemann, der als Oberleutnant Zimmermann im Adlershofer »Polizeiruf 110« bekannt wurde. Beide lernten sich um die Jahrtausendwende auf dem Anwesen eines sehr bekannten ostdeutschen Anwalts in Zislow kennen. Noch im gleichen Jahr segelten sie auf Riemanns Zeesboot von Stralsund nach Hiddensee. Das war der Beginn einer späten Freundschaft. Die Begegnungen und der Austausch von Meinungen führten nicht nur zur Veränderung in der Wahrnehmung des jeweils anderen, sondern auch der der Welt. Was auf sehr plastische Weise schon der Titel des Buches sichtbar macht. Bahr gilt als Erfinder der Losung vom »Wandel durch Annäherung«, womit er die theoretische Basis für die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition legte. Daraus machte der Verlag »Annäherung durch Wandel«, was das Verhältnis der beiden Männer beschreibt, die nicht nur achtzehn Lebensjahre trennte.

Ihre erste »Begegnung« ereignete sich Ende der 50er Jahre. Riemann arbeitete als Schiffbauer auf der Peenewerft in Wolgast und hörte in den Nachtschichten den RIAS. Der Kommentator hieß Bahr. Wenn der mit schneidigen Kommentaren über die »Ostzone« und die Russen herfiel, wurde abgedreht, erinnert sich Riemann. Bahr sagte später selbst über sich: Ich war ein Kalter Krieger. Ein reichliches Jahrzehnt später war er Bonner Unterhändler und erarbeitete mit Michael Kohl (»Wir nannten ihn ›Rot-Kohl‹, um ihn nicht mit Helmut Kohl zu verwechseln«) den Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der BRD. Diese fundamentale Vereinbarung regelte die Beziehungen zwischen beiden Staaten bis zum Ende des einen - woran Bahr durchaus mitgewirkt hatte. Im Jahr 2000 erfolgte schließlich das erste persönliche Treffen des Ex-Schauspielers, der mit der DDR auch seine Arbeit verloren hatte, und des prominenten Politrentners aus der alten Bundesrepublik. Augenscheinlich stimmte auf Anhieb die Chemie zwischen beiden. Vielleicht lag’s auch an den gemeinsamen Wurzeln. Von Geburt waren beide Ossis, ohne dass sie dies jemals thematisiert hätten. Bahr kam aus dem thüringischen Treffurt, war im sächsischen Torgau zur Schule gegangen (dem Förderverein des Gymnasiums gehörte er bis kurz vor seinem Tode an) und flüchtete von dort mit der Familie 1938 in die Anonymität Berlins, weil sich der Vater nicht von seiner jüdischen Frau trennen mochte, was die Nazis von ihm verlangten. Riemann war in Stettin geboren und durch den Krieg nach Vorpommern getrieben worden. Das prägte ihrer beider Sicht auf die Nazis, auf den Krieg, auf die Russen. Bei Bahr, das ist in den im Buch enthaltenen Selbstzeugnissen und Interviews nachzulesen, zieht sich das alles wie ein roter Faden durch sein ganzes politisches Leben. Er vermochte im Urteil stets zwischen Emotion und nüchterner Analyse zu unterscheiden. Legendär seine dialektische Feststellung nach Unterzeichnung des Grundlagenvertrages: »Bisher hatten wir keine Beziehungen. Jetzt werden wir schlechte Beziehungen haben. Und das ist der Fortschritt.«

Vermutlich würde er den gefühlsgesteuerten und kurzsichtigen Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine mit der gleichen Rationalität begegnen wie einem Auskunftsersuchen von Gymnasiasten: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.« Hatten und haben, das nur nebenbei, die USA, die Staaten der NATO inklusive Deutschland, etwa keine nationalen Interessen in der Ukraine oder in Bezug auf Russland? Das zu bedenken macht die Sache nicht besser, aber durchschaubarer.

Egon Bahr verkörperte einen Typus von Politikern - und das macht die Lektüre des äußerst aufschlussreichen Buches schmerzlich bewusst -, den es nicht mehr gibt: klarsichtig, meinungsstark und mutig, um auch gegen den Mainstream zu schwimmen. Es genüge nicht, ein Problem theoretisch zu analysieren, sondern man müsse die Erkenntnisse auch umsetzen. Das sei Kunst. Und auf die nächste Frage der Interviewer »Wenn Sie heute [Mai 2013; J. G.] nach Europa schauen: Sehen Sie Künstler am Werk?«, antwortete der damals 91-jährige Egon Bahr gewohnt offen: »Leider nicht. Und was mir Sorge macht: Ich sehe nirgends Vorbilder.«

Wie es ausschaut, ist der Befund keineswegs überholt.

Egon Bahr/Lutz Riemann: Annäherung durch Wandel. Kalter Krieg und späte Freundschaft. Hg. v. Frank Schumann. Edition Ost, 256 S., geb., zahlr. Fotos, 18 €.

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