Als Literatur noch lebenswichtig war

Die große Lockerung: In »Die Jahre der wahren Empfindung« untersucht Helmut Böttiger die deutsche Literaturgeschichte der 70er Jahre

  • Frank Schäfer
  • Lesedauer: 7 Min.

Die literarischen 70er sind ohne die 68er Kulturrevolution kaum zu begreifen - und positiv wie negativ eine Reaktion darauf. Als Hans Magnus Enzensberger in seinem berhmten »Kursbuch« Nummer 15, das am 2. Januar 1968 herauskam, ein flammendes Plädoyer für Agitpropliteratur hielt und damit indirekt die »Literatur als Kunst« für tot erklärte, sprach er allen Stalinisten aus der Seele, für die das Belletristische ohnehin bloß eine hübsche Nebensache war oder, schlimmer noch, eine ungewollte Ablenkung vom politischen Kampf.

Enzensberger hielt sich selbst nicht dran und fing wieder an zu dichten, spätestens als er im selben Jahr enttäuscht seinen Kuba-Trip abbrach. Man wollte ihm offenbar keineswegs ein Büro in der Nähe Fidel Castros zuweisen, stattdessen half er bei der Zuckerrohrernte und beim Kaffeepflanzen. Dann schon lieber Literatur.

Eine solche Desillusionierungserfahrung machten die meisten Linken auf die eine oder andere Weise. In der Bundesrepublik vor allem, denn hierzulande fiel die Revolution gleich mal aus, obwohl die politische Basisarbeit härter wurde, der Ton rauer und der Spaß dabei irgendwann auf der Strecke blieb. Ein Strategiewechsel schien angebracht und angesichts der umsturzunwilligen Proleten in den Fabriken ja durchaus naheliegend: Wenn sich das Kollektiv, die Gesellschaft, der Staat nicht fundamental verändern lässt, damit das Individuum darin besser leben kann, muss das Individuum zunächst besser werden, damit das Kollektiv sich sukzessive verändert. Und so konnte man auf einmal das Private, Alltägliche, die Gefühle, also das vermeintlich Unpolitische, politisch verstehen.

Das ist zunächst mal eine gewaltige Lockerungsübung. Man darf sich endlich wieder über etwas unterhalten, das die unmittelbaren, ganz konkreten Bedürfnisse berührt, bemerkt dabei aber bald, dass die Bauklötze der politischen Agitation sich auf diesem Spielfeld als ziemlich unhandlich erweisen. Jetzt ist »Literatur als Kunst« eben doch wieder gefragt. Denn wer, wenn nicht sie, vermag etwas zur Sprache zu bringen, von dem es noch gar keine richtige Sprache gibt - oder das doch zumindest unter Abstraktionen verborgen liegt?

Peter Schneiders Roman »Lenz« von 1973 ist das Buch, das diesen Paradigmenwechsel wohl am eindrücklichsten beschreibt. Schneider selbst, einer aus der SDS-Führungsriege, hatte bei Bosch in der Produktion gearbeitet, um die Werktätigen zu agitieren, war dort aber auf taube Ohren gestoßen. »Lenz« ist seine Therapie. Er beschreibt die zunehmende Hilflosigkeit der Linken, deren Forderungen ins Leere laufen und schließlich zu leeren Phrasen gerinnen, während das wilde Leben woanders stattfindet. Das will man wiederhaben oder auch erstmals endlich richtig auskosten.

»Erfahrungshunger« wird Michael Rutschky seinen großen Essay über die 70er Jahre nennen, der 1980 erscheint. In »Lenz« wird der exemplarisch formuliert. Etwa wenn Schneiders Alter Ego in seiner Mao-Lektüregruppe gelangweilt seine Gedanken schweifen lässt: »Es kam Lenz im Moment so komisch vor, dass alle diese Genossen mit ihren heimlichen Wünschen, mit ihren schwierigen und aufregenden Lebensgeschichten, mit ihren energischen Ärschen nichts weiter voneinander wissen wollten als diese sauberen Sätze von Mao Tse-tung, das kann doch nicht wahr sein, dachte Lenz. Wollten sie etwa nicht auch einfach zusammen sein, ihre Genüsse und Schwierigkeiten miteinander austauschen, einfach aufhören allein zu sein?

Lenz gab auf, sich über den Text zu ärgern, er ärgerte sich über den hypnoseähnlichen Zustand, in dem er aufgenommen wurde. Er schaute auf die Hosen der Männer und fand heraus, auf welcher Seite ihr Schwanz lag. Er stellte sich ihre Schwänze in Erregung vor und dann die Folge von Veränderungen der Körper, die stattgefunden haben müssen, bis alle wieder so sitzen und sprechen konnten.«

»Neue Subjektivität«, »Neue Empfindsamkeit«, »Neue Innerlichkeit« heißen die Schlagworte für diese literarische Zeitströmung, die sich weiterhin durchaus links verortet, sich aber nach den strengen Jahren der ML-Parteigründungen auch endlich wieder der Realität in all ihren Facetten stellen will. In Helmut Böttigers überaus kundiger, blendend formulierter 70er-Jahre-Literaturgeschichte »Die Jahre der wahren Empfindung« nimmt sie einen entsprechend breiten Raum ein.

Vor allem die Lyrik profitiert anfangs von diesem erweiterten Realismuskonzept. »Selbstverständlich gibt es keine Identität zwischen Erlebnis und Gedicht, aber es gibt die Möglichkeit, den Abstand zwischen beiden gering zu halten, das Gedicht an seinen Gegenstand heranzuschieben, es ihm auf den Körper zu schreiben«, schreibt Jürgen Theobaldy, dem es bald gelingt, aus dem Underground zum viel gelesenen Rowohlt-Jungstar aufzusteigen. Theobaldys Gedichtband »Blaue Flecken« löst dieses Postulat mustergültig ein.

In Heidelberg im Januar 1973

Es macht mich unruhig

was du aus mir machst!

Du kommst jetzt beinah

in jedem Gedicht vor vielleicht

weil du nicht hier bist

was nicht heißen soll

die Welt wäre in Ordnung

wärst du nur hier

Aber ich

wäre nicht so allein

diese lange Nacht

in der Universität

die wir seit gestern

besetzt haben

Weil wir jetzt kämpfen müssen

um unser Recht zu reden

zu arbeiten und zu lieben

Dem 1979 früh verstorbenen, mittlerweile fast vergessenen Dichter Nicolas Born widmet Böttiger eins der schönsten Kapitel seines Buches. Der gelernte Chemiegraf aus kleinbürgerlichem Haus geht nach ersten schriftstellerischen Erfolgen nach Westberlin, mischt eine Weile im Vorfeld der Studentenbewegung mit, trifft während eines halbjährigen USA-Stipendienaufenthalts Allen Ginsberg, Charles Bukowski, Daniel Berrigan et al., lässt sich mitreißen von der US-Popliteratur und wird einer ihrer Apologeten im deutschsprachigen Raum.

Borns Gedichte, versammelt in den Bänden »Wo mir der Kopf steht« und »Das Auge des Entdeckers«, harren schon länger der Wiederentdeckung. Born war nie so auratisch wie Rolf Dieter Brinkmann, nicht zuletzt weil ihm die großspurige Künstler-Attitüde abging, weil ihm die Lautstärke und Unbedingtheit fehlten, weil er mit sanfter Skepsis bedachte, was Brinkmann zielsicher hassen konnte. Aber er war einer der jungen Hoffnungsträger und kannte sie alle, Hermann Peter Piwitt, Günter Kunert, Friedrich Christian Delius, Hans Christoph Buch, Theobaldy und auch Peter Handke, den späten, intimen Freund, der den an Lungenkrebs Sterbenden noch in den letzten Tagen besucht.

In Borns Briefen erfährt die »Neue Innerlichkeit« eine schöne biografische Erdung. Born hat Talent zur Freundschaft, vor allem aber ist er süchtig danach. Immer wieder fordert er seine Briefpartner auf, »was Persönliches« zu berichten. Als ihm der Radikalinski Delius in einem Brief zu viele Parolen schwingt, ranzt er ihn empathisch an: »Beweis mir lieber, dass Du noch fähig bist, einen Liebesbrief zu schreiben.«

Böttiger macht nicht den Fehler, die Empfindsamkeitsschule überzubetonen; er malt vielmehr ein breites Panorama der 70er-Jahre-Literatur, indem er die unter anderen Vorzeichen Formen und Formate findende Literatur der DDR (etwa Wolf Biermann, Volker Braun, Franz Fühmann, Fritz Rudolf Fries und Christa Wolf) genauso liebevoll empathisch in den Blick nimmt wie die sich langsam konsolidierende Emanzipationsliteratur von Karin Struck, Gabriele Wohmann oder Verena Stefan oder Monolithen wie Arno Schmidt, Ingeborg Bachmann, Peter Weiss, Thomas Bernhard, Uwe Johnson oder Heiner Müller, die alle ihre ganz eigenen ästhetischen Wege gehen.

Man merkt diesem Buch jederzeit an, dass sich Böttiger schon lange mit der Literatur dieser Dekade publizistisch auseinandersetzt. Hier sind Dutzende Kritiken, Porträts und Interviews eingeflossen - man könnte »Die Jahre der wahren Empfindung« wohl auch als eine Art Synthese des literaturkritischen Werkes Böttigers lesen. Das ist kein Nachteil, anders ließe sich diese stupende Detailkenntnis von Leben und Werk so vieler unterschiedlicher Autorinnen und Autoren kaum herstellen.

Dass dieses Buch keine wirklich stringente Struktur, sondern eher Wimmelbildcharakter hat, ficht seine Qualität ebenfalls nicht an. Das bringt diese »wilde Blütezeit« erst in eine ihrer Buntheit und Heterogenität gemäße Form. Zumal Böttiger die einzelnen Porträts so gekonnt integriert und aufeinander abstimmt, dass Redundanzen sich sehr in Grenzen halten. Und so ist diese offene Essaycollage eine ebenso brillante wie überzeugende Rehabilitation der literarischen 70er, dieses von der Literaturkritik oft leichtfertig abgetanen Jahrzehnts.

Böttiger macht Lust, seinen Streifzügen eigene folgen zu lassen. Vor allem aber, und das ist weit mehr, als herkömmliche Literaturgeschichten leisten, bekommt man hier ein Gefühl für dieses Jahrzehnt, in dem die Literatur noch lebenswichtig war.

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur. Wallstein, 473 S., geb., 32 €.

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