Kein Theater mehr

Eine sanft drückende Unheimlichkeit und Verzweiflung: Kurzgeschichten von Philipp Böhm in »Supermilch«

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Der erste Eindruck: Die Welten in den neun Erzählungen der Kurzgeschichtensammlung »Supermilch« sind auf eine eigentlich ganz angenehme Weise unbestimmt. Und trotzdem immer befremdlich - immer dann, wenn man die eigenen wiedererkennt. Geschrieben hat diese Texte Philipp Böhm, der 2019 seinen Debütroman Der »Schellenmann« veröffentlicht hat, ebenfalls im Verbrecher-Verlag.

Wie schon im Roman verstehen die Menschen in diesen Texten nicht mehr so wirklich, was um sie herum vorgeht. Die Verhältnisse sind prekär, die Wahrnehmung ist es auch. Das klärt nichts und schafft keinen Überblick, weil die Figuren hier auch keinen haben und immer nah an ihrem inneren Erleben erzählt wird. Oder dem, was davon übrig ist.

Es gibt in diesen Erzählungen schon auch so etwas wie Psychologie. Eine Protagonistin hat sogar eine glückliche Kindheitserinnerung. Aber die Figuren bleiben reduziert aufs Nötigste, das es braucht, um in den sozialen Universen, die hier beschrieben werden, nicht ganz zu verschwinden.

»German Content Superstar« zum Beispiel kreiert durch den stilsicheren Aufruf einer bestimmten Sprech- und Denkweise in einer kleinen geilen Firma einen ganzen Arbeitskosmos, in dem die Angestellten aufgefordert sind, die Grenze zwischen Privatleben und Job zu negieren: »Rituale halten unsere hellen, ewigen Tage zusammen. Wir zwingen uns nicht. Wir wissen einfach, was dazugehört.« Dazu gehören auch die Störmomente, die diese Art zu arbeiten und zu leben als porös entschleiern, auch weil so etwas wie ein privates Leben, das irgendwie nennenswert wäre, gar nicht mehr beschreibbar wäre.

Genres werden angetippt, aber nie wirklich ausgespielt: Science-Fiction, Sozialrealismus, Settings, die auch gut in ein Horrorszenario kippen könnten. Wie nebenbei wird man über groteske Details informiert, fantastische oder realistische, die sich festhaken oder auch einen Kern der Geschichte bilden: ein Himmel voller Hologramme, Berge aus Fett und Fäkalien in der Kanalisation, ein Obdachloser, der vollgekotzte Pfandflaschen aus einem Mülleimer zieht.

Im Zentrum stehen immer wieder Krisen, missglückte Übergänge und Abschiede. Heftig trifft es zum Beispiel die Enkelin in »Das MacDougall-Projekt«, die von einem ominösen Wissenschafts-Start-up so etwas wie die Seele ihrer verstorbenen geliebten Großmutter in einem großen Tank vorgeführt bekommt und danach fertig mit den Nerven über eine Straßenkreuzung irrt. Man kann sich die Geschichte wunderbar als literarische Vorlage einer der inspiriertesten »Twilight Zone«-Folgen vorstellen.

Der Ich-Erzähler in »German Content Superstar« zeigt sich von der Erzählung des eigenen ungelebten Lebens und der Leben der anderen aber durchaus fasziniert: »Ich spüre die Verzweiflung und sie interessiert mich sehr.« Andere Figuren scheinen ihre Verzweiflung gar nicht mehr so sonderlich dramatisch zu finden. »Ich komme immer wieder zurück. Ich habe mich gar nicht bewegt«, konstatiert ein Sozialblockbewohner, der in einem weiteren Scheißjob rumkäst und in seiner Wohnung mit einem Haufen Spinnen und einer Kröte namens Friedrich lebt.

Einige der Erzählungen in »Supermilch« haben, na ja, Schlusspointen; andere wiederum laufen nicht auf einen Punkt zu, sondern funktionieren fast ausschließlich über Atmosphären. In »Der Schellenmann« verlor sich diese Erzählhaltung auf langer Strecke irgendwo im Ungefähren, wenngleich auch schon der Roman zeigte, dass hier ein Autor mit enormem Talent zur sprachlichen Entfaltung literarischer Welten am Werk ist, die von einer sanft drückenden Unheimlichkeit bestimmt sind. In der kurzen Form ist das alles aber vollends geglückt. Wo es keine Entwicklung mehr gibt, sondern nur noch ein diffuses Jetzt, kann man sich Psychologisierung und seelische Entwicklung auch sparen oder nur noch in stumpfer Form stattfinden lassen.

»Ich spüre die Verzweiflung und sie interessiert mich sehr« - den Satz kann man auch programmatisch für die kühle und zugleich involvierte Perspektive verstehen, die Böhm als Autor einnimmt. Wer auf den Begriff bringen will, was um ihn herum los ist, möchte meist Eindeutigkeit schaffen. Texte hingegen, die ihre Figuren, und die Leser gleich mit, eher tastend durch irgendwie schwebende Welten tapsen lassen, sind da anders.

Die Erzählungen in »Supermilch« könnte man schnell für soziologische oder gar sozialkritische Literatur halten, aber dafür kommt alles immer wieder zu sehr ins Schillern. Beschrieben werden Zu- und Umstände, die nicht so sind, dass darin noch so etwas wie ein Subjekt der Kritik entstehen könnte. Im Hinblick auf diese, ihren Figuren bei aller Lakonie sehr nahe kommenden Texte unangemessen pathetisch formuliert: Wo das Leben nur noch rudimentär lebt und die Fluchtversuche Versuche bleiben müssen, gibt es auch kein großes Theater mehr, kein komplexes Seelenleben und keine Kämpfe.

Philipp Böhm: Supermilch. Verbrecher-Verlag, 180 S., geb., 22 €.

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