- Kultur
- Israel
Ein kleines Eden im Diesseits
James Horrox berichtet über Anarchismus in der Kibbuzim-Bewegung
Nur wenige Jahre vor seinem Tod veröffentlichte der deutsche Anarchosyndikalist Augustin Souchy eine euphorische Schrift unter dem Titel »Reise durch die Kibbuzim« (1984). Enthusiastisch beschreibt er darin seine Einsichten und Erfahrungen, die er bei Reisen durch diverse Kibbuzim gesammelt hat. Sein Bericht endet pathetisch und mit problematischem Einschlag wie folgt: »Vor fast 2000 Jahren brachten die Juden der Menschheit das Christentum, wobei sie leider den Garten Eden ins Jenseits verpflanzten. Heute bringen die Kibbuzim wenigstens ein kleines Eden ins Diesseits zurück.« Fast 40 Jahre später ist nun die deutsche Übersetzung der 2008 verfassten Studie »Gelebte Revolution« des britischen Politikwissenschaftlers und Autors James Horrox erschienen.
Die Kibbuzim-Bewegung wurde zwar wiederholt in die Nähe des Anarchismus gerückt - gerade in den neueren Gesamtdarstellungen zum Anarchismus (Peter Marshall, »Demanding the Impossible«) oder in Studien zum modernen Anarchismus (Uri Gordon, »Hier und Jetzt«) -, aber bis auf die bereits zitierte Schrift von Souchy steht Horrox Studie allein auf weiter Flur.
Ausgehend von ein paar grundlegenden Bemerkungen zum Anarchismus und zum jüdischen Sozialismus, namentlich den Ideen von A. D. Gordon (1858-1919), einem frühen Kibbuznik und führenden Vertreter der Bewegung Hapoel Hatzair (Der junge Arbeiter), werden von Horrox die drei ersten Alija (Wellen der Migration nach Palästina), das heißt der Zeitraum zwischen 1882 und 1924, in den ersten Kapiteln fokussiert. Im Zuge der ersten Alija kam es zur Gründung von Kvutzot (landwirtschaftliche Kollektivsiedlung), während im Rahmen der zweiten Welle sich die Kibbuzim als eigenständige Siedlungsform entwickelten.
Gerade bei den Protagonist*innen der zweiten Welle, in der unter anderem der bis heute existierende Kibbuz Degania (Kornblume) entstand, ist der Einfluss frühsozialistischer Denker, Leo Tolstois und der Theorie Peter Kropotkins besonders präsent; während in der zweiten und dritten - nicht zuletzt über den jüdischen Philosophen Martin Buber vermittelt - der Gemeinschaftsgedanke von Gustav Landauer stärker Fuß gefasst hat. Innerhalb der dritten Welle wurde dann aber auch der Einfluss eines von Marx beeinflussten Sozialismus stärker, der sich Mitte der 1920er Jahre breitmachte. Horrox bietet aber auch einen kurzen Ausblick auf die späteren Jahre und Entwicklungen, die den anarchistischen Impuls zurückgedrängt haben.
Anhand des in jenen knapp 15 Jahren zwischen der Gründung von Degania und dem Ende der dritten Alija gelebten Sozialismusmodells in den Kibbuzim stellt Horrox deren Grundlagen dar, die sich vereinzelt bis heute in den aktuellen Siedlungen wiederfinden, um im vierten Kapitel auch die Frage nach einer neuen Kibbuzim-Bewegung zu stellen. Bei der Darstellung der Funktionsweise setzt er sich zum Beispiel kritisch mit dem Arbeitsethos auseinander - allerdings ohne die zum Teil in der ersten Generation der Kibbuzniks immer noch existierende geschlechtsspezifische Arbeitsverteilung zu problematisieren - und thematisiert die pädagogischen Ansätze.
Daran anknüpfend beleuchtet er das Verhältnis der anarchistischen Bewegung in Israel zur Kibbuzim-Bewegung, wobei er hier vermehrt mit O-Tönen arbeitet. Dabei muss er feststellen: »Mit den Erfahrungen der frühen Kommunard*innen können viele der heutigen israelischen Anarchist*innen nicht mehr viel anfangen.«
Diese fundierte Darstellung der anarchistischen Tradition innerhalb der Kibbuzim-Bewegung von Horrox bietet einen sehr guten Einstieg in die Geschichte und die frühe Entwicklung jener einzigartigen Siedlungsbewegung, die im Gegensatz zu den meist kurzlebigen frühsozialistischen Kommuneprojekten der Adepten Cabets, Saint-Simons und Fouriers auf eine über 100-jährige Geschichte zurückblicken kann. Weiterhin füllt Horrox eine Forschungslücke in der ansonsten sehr reichhaltigen Literatur über diese Bewegung, indem er gerade das häufig in der Sekundärliteratur aufgebrachte Postulat einer Nähe zwischen dem anarchistischen Denken und der frühen Kibbuzim-Bewegung, wie es unter anderem von Noam Chomsky vertreten wird, faktenreich untermauert.
Ergänzt wird Horrox’ Studie durch mehrere Anhänge - sowohl durch einen Nachdruck des Briefwechsels von Nahum Goldman mit Gustav Landauer als auch durch Uri Gordons Vorwort zur ersten amerikanischen Ausgabe.
James Horrox: Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung. Verlag Graswurzelrevolution, 259 S., br., 24,80 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.