Nur wenige KZ-Überlebende können anreisen

49 ehemalige Häftlinge von Sachsenhausen und Ravensbrück zum Jahrestag der Befreiung eingeladen - zehn haben zugesagt

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor der Corona-Pandemie zählte die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen jährlich mehr als 700 000 Besucher aus aller Welt, die Gedenkstätte Ravensbrück 110 000. Im vergangenen Jahr waren beide vom 1. Januar bis 16. Mai geschlossen, und danach lief es auch nicht so wie früher. Lediglich 103 000 Besucher in Sachsenhausen und 28 000 in Ravensbrück wurden verzeichnet. Erst jetzt, da die Corona-Maßnahmen international gelockert werden, normalisiert sich die Lage.

Besonders bedauerlich: Ausgerechnet der 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager konnte 2020 nicht wie geplant begangen werden. Dies 2021 nachzuholen, klappte ebenfalls nicht - wieder machte das Coronavirus einen Strich durch die Rechnung. Mit Onlineformaten versuchte die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten das etwas auszugleichen. Die persönliche Begegnung mit den Zeitzeugen konnte das jedoch nicht ersetzen. Nun, zum 77. Jahrestag, sollen endlich wieder vom 29. April bis zum 2. Mai ehemalige KZ-Häftlinge in den Gedenkstätten sein.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

»Wir sind froh, dass wir steigende Besucherzahlen verzeichnen«, sagt Stiftungsdirektor Axel Drecoll. »Wir sind froh, dass wir Überlebende einladen können.« 2020 hatte die Gedenkstätte Sachsenhausen mehr als 90 Überlebende des Lagers zu den Feiern eingeladen, die dann abgesagt werden mussten. Wer die KZ-Haft überstand und heute noch lebt, ist in einem sehr hohen Alter. Von den 90 Zeitzeugen sind inzwischen einige verstorben - und den anderen ist die Anreise oft nicht mehr zuzumuten.

Leon Schwarzbaum starb 101-jährig

Erst kürzlich im Alter von 101 Jahren gestorben ist beispielsweise Leon Schwarzbaum. Er hatte als Jude im Vernichtungslager Auschwitz, in Buchenwald und in einem Nebenlager von Sachsenhausen geschmachtet und im Holocaust alle seine Angehörigen verloren. Später lebte er als Kunst- und Antiquitätenhändler in Berlin und berichtete Schülern von seinem Schicksal. Zuletzt gab es noch Überlegungen, ob er in Brandenburg/Havel im Prozess gegen den hochbetagten mutmaßlichen KZ-Wachmann Josef S. aussagt. Doch Schwarzbaums Gesundheit ließ das schon nicht mehr zu.

Die Gedenkstätte Sachsenhausen hat nun noch Kontakt zu 39 ehemaligen Häftlingen - 38 Männern und einer Frau, die nach Kenntnis der Stiftung eventuell kommen könnten. Diese sind eingeladen. Zehn von ihnen leben in Israel, sechs in Frankreich, fünf in Polen, vier in den USA, drei in Belarus und je zwei in der Ukraine und in Deutschland. Je einer wohnt in Griechenland, Norwegen, Peru, Russland, Tschechien und Ungarn. Bisher haben sieben Überlebende zugesagt. Ein tragischer Fall ist der des 95-jährigen Wolodymyr Korobov aus Kiew. Er steht auch auf der Einladungsliste, hatte sich Anfang 2021 mit der Bitte gemeldet, noch einmal den Ort besuchen zu dürfen, an dem er 1943 bis 1945 eingesperrt war und den er seitdem nie wieder gesehen hatte. Doch jetzt müsse er sich in seiner Heimatstadt im Keller vor russischen Luftangriffen verbergen und um sein Leben fürchten, berichtet Stiftungsdirektor Drecoll. Korobov wolle unbedingt nach Deutschland kommen, jedoch nicht als Flüchtling. Er wolle anschließend in die Heimat zurückkehren. Korobov zeigte sich vor wenigen Tagen am Telefon zuversichtlich, dass dies Ende April möglich sein werde. Ob das eine realistische Einschätzung war, steht in den Sternen.

KZ-Überlebende im Bombenhagel in Kiew

Ganz sicher nicht kommen kann eine Überlebende des Frauen-KZ Ravensbrück. Sie könne ihre Wohnung im 9. Stock eines Hochhauses in Kiew aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verlassen, erklärt Gedenkstättenleiterin Andrea Genest. Deswegen flüchte die Familie der betagten Frau nicht aus Kiew, sondern harre bei ihr aus.

Zum Jahrestag der Befreiung nach Ravensbrück eingeladen sind zehn Überlebende aus Israel und Europa. Voraussichtlich können nur drei von ihnen kommen - wegen des Krieges in der Ukraine ist niemand von dort sowie aus Russland und Belarus dabei. Angesagt hat sich dagegen Lily Leignel, die 1932 als Kind einer jüdischen Familie in Frankreich geboren, im Zweiten Weltkrieg nach Ravensbrück verschleppt worden war.

Der Krieg in der Ukraine hat derweil nicht nur Einfluss auf den Jahrestag der Befreiung der Lager, sondern auch auf eine internationale Konferenz, die am 23. Juni in der Gedenkstätte Sachsenhausen stattfinden soll.

Sich austauschen trotz des Ukraine-Kriegs

Geplant war sie ursprünglich für Juni 2021 zum 80. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion. Sie wurde bereits zweimal coronabedingt verschoben. Nun heißt es: »Nach reiflicher Überlegung haben die Organisatoren sich entschlossen, die Tagung trotz des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine durchzuführen, um auch in den Zeiten des Konflikts menschliche und fachliche Kontakte zu ermöglichen.« Aber Umplanungen seien notwendig, sagt Stiftungsdirektor Drecoll. Die Referenten stammen aus sieben verschiedenen Staaten, wobei die Teilnahme der Wissenschaftler aus der Ukraine, aus Russland und Belarus derzeit noch ungewiss ist.

Dem Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion waren einst 27 Millionen ihrer Bewohner zum Opfer gefallen, darunter sehr viele Ukrainer, Russen und Belarussen. Darunter auch die mehr als 10 000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die von September bis November 1941 in einer Genickschussanlage im KZ Sachsenhausen von der SS ermordet wurden. Am 22. April 1945 befreiten sowjetische und polnische Soldaten das Lager Sachsenhausen, am 30. April 1945 sowjetische Truppen das Lager Ravensbrück.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!