- Sport
- Schach-Boom im Internet
Das Geld liegt im Netz
Vom analogen Schach können nur sehr wenige Profis leben. Hikaru Nakamura wurde deshalb lieber Streamer, was ihn am Brett sogar befreite
Unterlippe vor, Augenbrauen hoch, Kopf zur Seite neigen und ein kurzes Schulterzucken. Diese Geste ist zum Markenzeichen von Hikaru Nakamura geworden. Immer wenn der Schachspieler gefragt wird, ob er sich über einen Sieg freue, einen Zug bereue, ihn eine Niederlage vielleicht ärgere, macht er diese Bewegung und sagt trocken: »Es kümmert mich nicht mehr.« Schließlich sei er ja gar kein professioneller Schachspieler mehr. »Ich habe jetzt einen richtigen Job«, sagt er. Nakamura bezeichnet sich seit knapp zwei Jahren als Streamer. Raus aus der Szene ist er damit aber noch lange nicht. Man könnte sogar behaupten, dass er nach Magnus Carlsen zum zweitgrößten Schachstar aufgestiegen ist - Corona sei Dank!
In Japan geboren, siedelte Nakamura schon als Zweijähriger in die USA über. Sein Stiefvater wurde zum ersten Schachtrainer, und schnell zeigte sich, der Junge hat Talent. Nakamura besiegte viel ältere Kontrahenten, gewann irgendwann Turniere und wurde im Jahr 2003 mit 15 der jüngste Großmeister, den die USA bis dahin hervorgebracht hatten. Er nahm diesen Rekord keinem geringeren als Ex-Weltmeister Bobby Fischer ab.
Wie so vielen »Wunderkindern« vor und nach ihm wurde Nakamura eine große Schachkarriere prophezeit, also schlug er den üblichen Weg des Profis ein, der durch die Welt von einem Turnier zum nächsten tingelt. Immer auf der Jagd nach Siegen, mehr Punkten auf der Elo-Rangliste und Einladungen zu den höchstdotierten Wettbewerben.
Obwohl er zwischen 2004 und 2019 fünfmal US-Meister wurde und 2015 mit der Elo-Zahl von 2816 Punkten die zehnthöchste Wertung aller Zeiten erreichte, kann man nicht behaupten, dass ihm der große Durchbruch je richtig gelungen wäre - zumindest nicht finanziell. Viele halten den 34-Jährigen zwar für den besten Blitzschachspieler überhaupt, aber Weltmeister wurde er nie, nicht im Schnell- oder Blitzschach und schon gar nicht in der klassischen Variante, bei denen Partien schon mal sieben Stunden andauern können anstatt nur wenige Minuten. Ohne derlei Titel aber schafft es niemand, dauerhaft stressfrei vom Schach zu leben. Im Grunde trifft das aktuell wohl nur auf Norwegens Weltmeister Magnus Carlsen zu, der seit einem Jahrzehnt die Szene beherrscht und im Gegensatz zu seinen Kontrahenten millionenschwere Werbeverträge abschließen konnte. Alle anderen spielen analog oder online um vier- oder selten fünfstellige Preisgelder. Nur die Top 20 der Welt dürften Antrittsgelder in ähnlicher Höhe erhalten. Reich werden mit Schach nur die wenigsten.
Und dann kam auch noch die Pandemie. Keine Turniere mehr, keine Reisen. War nun alles vorbei? Im Gegenteil: Alles auf Anfang! Alles neu - zumindest für Hikaru Nakamura. Der hatte schon 2017 begonnen, sich ab und an auf der Plattform Twitch selbst beim Online-Schach zu streamen. Doch nur wenige Menschen sahen die Live-Übertragungen. Zu sporadisch ging Nakamura online, zu amateurhaft waren Bild- und Tonqualität, zu eintönig der produzierte Content. Ein Nischenprodukt für Schachfans, mehr war es nicht.
Doch mit dem Lockdown Anfang 2020 änderte sich die Schachwelt. Plötzlich suchten Millionen Menschen weltweit nach neuen Hobbys für die Zeit daheim. Gleichzeitig feierte die Netflix-Serie »The Queen’s Gambit« einen unerwarteten Zuschauererfolg und trieb viele zum Online-Schach. Auch Nakamura änderte seine Herangehensweise. Anstatt weiter Tausende Eröffnungszüge zu studieren und auswendig zu lernen, setzte er alles auf die Karte Streaming: War er 2017 im Schnitt zwei Stunden pro Monat online, steigerte er sich bis zum April 2020 auf das Hundertfache. »GMHikaru« sitzt nun fast täglich bis zu zehn Stunden lang vor Kamera und Computer und bietet längst nicht mehr nur Schach, wenn ihm stets 10 000 bis 20 000 Follower zuschauen. Nakamura spielt Videospiele, lacht sich über Memes kaputt, löst Rätsel oder kollaboriert mit anderen Streamern aus allen möglichen Bereichen. Auch beim Schach wird er immer kreativer: Er probiert wilde Varianten aus, er veranstaltet Speedruns, in denen er so viele Gegner in so kurzer Zeit wie möglich besiegt, oder er bespricht den neuesten Tratsch der Schach-Community.
Seine Abonnentenzahl auf Twitch durchbrach im Februar 2021 die Millionengrenze, ebenso die seines Youtube-Kanals, auf dem er die besten Clips seiner Streams hochlädt. Bereits ein halbes Jahr zuvor hatte das E-Sport-Team TSM, das sonst mit Videospielen wie League of Legends oder Dota zwei Millionen junge User anlockt, Nakamura für ein angeblich sechsstelliges Jahresgehalt unter Vertrag genommen. So wurde aus dem Sachspieler der E-Sportler Hikaru Nakamura.
Nicht einmal zu seinen erfolgreichsten Zeiten am analogen Brett verdiente er je so viel wie jetzt - dank all der »Emotes«, »Subs«, »Primes« und »Donations«, mit denen Abonnenten ihre Lieblingsstreamer regelmäßig für die gebotene Unterhaltung belohnen. Über Artikel, die ihm bereits mit 50 Millionen Dollar das größte Vermögen unter allen Schachspielern attestieren, amüsiert sich Nakamura aber köstlich. Da werde er um mindestens das Zehnfache überschätzt, und mit Carlsen könne er keinesfalls mithalten. Aber eins ist klar: Nakamura hat ausgesorgt. Im wortwörtlichen Sinn muss er sich keine Sorgen mehr machen. Oder wie er es selbst so gern formuliert: Die Sorgen, die sich »normale« Schachprofis machen, die »kümmern mich nicht mehr«.
Seit ein paar Monaten setzt sich Nakamura auch ab und zu wieder ans analoge Brett. Bei der Schnellschach-WM im Dezember in Warschau wurde er nach zwei Jahren Pause auf Anhieb Siebter. Eine bessere Platzierung in der Blitzvariante verhinderte direkt danach nur eine Corona-Infektion. Überraschend war das nicht, schließlich spielt Nakamura online fast ausschließlich die dort vorherrschenden nur wenige Minuten dauernden Kurzvarianten, in denen es vor allem auf Intuition, schnelle Reaktionen und Kreativität ankommt. Doch kann er auch noch im klassischen Schach mithalten, wenn ihn Gegner mit mehr als 20 Eröffnungszügen bombardieren, die sie vorher monatelang von Supercomputern durchrechnen ließen?
Die beeindruckende Antwort darauf gibt der US-Amerikaner seit Februar beim Grand Prix. Sicherlich auch dank seiner gestiegenen Popularität hatte ihm der Weltverband Fide eine Wildcard für den auf drei Turniere in Berlin und Belgrad verteilten Grand Prix gegeben. Daran gab es auch Kritik. So forderte der russische Großmeister Sergei Karjakin, die Fide solle doch lieber seinem jungen Landsmann Andrei Jessipenko eine Chance geben, anstatt einen Spieler einzuladen, der längst in Rente gegangen ist.
Weil der Chinese Ding Liren nicht anreisen konnte, waren dann doch beide beim ersten Turnier in Berlin dabei - und Nakamura genoss es sichtlich, als er Jessipenko mit einem Sieg und einem hart erkämpften Remis aus dem Turnier warf. Danach besiegte er auch den Weltranglistenzehnten Richárd Rapport aus Ungarn sowie im Finale den Vierten des Rankings, Lewon Aronjan aus den USA. Der streamende Rentner beendete das Turnier ohne Niederlage. Er war in den Spieleröffnungen oft ins Hintertreffen geraten, konnte sich aber immer wieder befreien, als dem am Computer vorbereiteten Schach der menschliche Teil des Spiels folgte und wieder Intuition und Kreativität gefragt waren.
Viel wichtiger aber scheint, dass Nakamura keinen Druck mehr verspürt, und das hat ihn befreit. Er hat keine Angst vor dem einen Fehlzug, der alle Hoffnungen begräbt. Denn er macht sich keine Hoffnungen. Dagegen sagte der Ungar Rapport in Berlin: »Als ich Student war und es nicht so nahm, hatte ich Spaß am Schach. Seitdem es kein Hobby mehr ist, dreht sich aber alles nur noch um Ergebnisse. Wenn du nicht gewinnst, kann dir irgendwann das Geld ausgehen. Genießen tue ich das nicht mehr. Ich wäre wohl viel glücklicher, hätte ich all die Zeit und Energie in einen anderen Job gesteckt.«
Beim Grand Prix ist der Druck besonders groß, denn den zwei Besten winken die letzten Einladungen zum WM-Kandidatenturnier, bei dem im Juni der Gegner für Weltmeister Carlsen ermittelt wird. Nakamura hat seit dem Erfolg im ersten Turnier im Februar plötzlich gute Chancen, doch noch einmal die größte Schachbühne zu erreichen. Kommt er im letzten Teil des Grand Prix im World Chess Club Unter den Linden in Berlin erneut bis ins Halbfinale, kann ihn niemand mehr von der Spitze verdrängen.
Der Start ist diesmal aber misslungen. Seine erste Partie verliert Nakamura, in den nächsten beiden rettet er gerade noch zwei Remis. »Ich spiele Schach nur noch zum Spaß. Früher habe ich mich stundenlang über verpasste Chancen geärgert. Jetzt kümmern sie mich keine Minute mehr«, sagt er nach der Auftaktniederlage gegen Aronjan fast trotzig. »Ich starte einfach das nächste Spiel.« Also zieht sich Nakamura den Mantel an, läuft schnell über die Straße ins Hotel und setzt sich an den Computer. Keine Analyse mehr, stattdessen startet er den Stream, denn seine Abonnenten daheim warten schon.
Tags darauf ärgert er sich doch. Er habe keine zwei Stunden geschlafen, erzählt er. Nicht wegen der Niederlage. Nein, Nakamura ist für drei Tage von Twitch ausgesperrt worden, weil er das Spiel eines anderen Streamers gezeigt hatte, von dem er nicht wusste, dass er noch immer gesperrt war. »Das war unfair und überzogen«, meint er. Noch schlimmer: Weil ihn der Veranstalter des Grand Prix in dessen Stream während des Turniers weiterhin zeigte, drohte Nakamura unverschuldet sogar ein lebenslanger Bann. »Und das könnte dann alles ruinieren. Das beschäftigt mich mehr als das Turnier«, sagt der Amerikaner. Existenzängste hat man wohl in jedem Job.
Am Donnerstagabend erreichte Nakamura die erlösende Nachricht. Der Bann der Streming-Plattform wurde schon einen Tag früher als geplant wieder aufgehoben. Danach schlief er dreimal so lang, berichtet er. Und er sitzt wieder befreit am Brett. Am Freitag siegt Nakamura im Rückspiel gegen Aronjan, so dass er wieder alle Chancen auf den Turniersieg hat.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!