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Verbunden in der Not
Die Ukraine ist ein Land mit vielen Gegensätzen, die derzeit durch den Krieg überlagert werden
Um 23.52 Uhr ukrainischer Zeit kommt die Nachricht per Whatsapp: »Wir sind hier.« Plötzlich knirscht es unter den Füßen, Plastiktüten, Krimskrams und Kinderwagen rascheln umständlich in Richtung Zeltausgang. Das grüne Zelt mit weißer Kuppel wirkt im Dämmerlicht nicht wie eine Zwischenstation für Geflüchtete, sondern wie ein Wanderzirkus, der sich versehentlich im Nirgendwo niedergelassen hat. Hier in Vyšné Nemecké, einem Örtchen in der Ostslowakei, sitzen seit Stunden 13 Menschen und warten auf zwei Minibusse mit deutschem Kennzeichen. Jetzt stapfen die Großen und die Kleinen schweigend im Gänsemarsch durch die nachtschwarze Kälte. Es gäbe bessere Zeiten für diese Fahrt.
In der Ukraine tobt Krieg. Ein Krieg, bei dem die Menschen schon seit Wochen in Kellern sitzen und wie Fliegen dahinsterben. Es ist auch ein Kulturkrieg, ein »Kampf um die Erinnerung und um die Zukunft der Vergangenheit«, wie der Journalist Michael Martens es diese Woche in der »FAZ« ausdrückte. Dieser kulturelle Konflikt zeigt sich auch in jener Nacht bei den Menschen, die in den Minibus steigen - und doch schmelzen auf einmal die jahrzehntelang existierenden Gegensätze dahin. Der Krieg scheint die Notleidenden einander näherzubringen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Da ist Iryna, 40, Fernsehmoderatorin. Wasserstoffblondes Haar, beige wattierte Daunenjacke. Sie nimmt zwischen ihren zwei Söhnen hinten auf dem schwarzen Polster Platz. Sie lacht viel, auch jetzt noch. Ihre Muttersprache Ukrainisch gießt sich in einen klangschönen Singsang, als würde sie immerzu Poesie rezitieren. Iryna schreibt Gedichte. Russisch spricht sie nur, wenn ihr keine Wahl bleibt. Mit ihrem ältesten Sohn schimpft sie, wenn sie ihn mit seinen Freunden Russisch sprechen hört. Irynas Heimat ist Uschgorod in Transkarpatien am südwestlichen Zipfel der Ukraine.
Da ist Alyona, 47, Psychologin. Sie sitzt auf dem rechten Platz in der mittleren Reihe. Alyona kommt aus Schtschastja, was auf Deutsch »Glück« bedeutet. Das Leben in Schtschastja hat sie weise gemacht. Seit acht Jahren hört sie hier das gedämpfte Heulen der Sirenen und die Wucht der Explosionen, wenn »beide Seiten Zärtlichkeiten austauschen«, wie sie es nennt. Schtschastja liegt im Donbass. Bis zum Kriegsausbruch trennte nur der Fluss Siwerskyj Donez Alyonas Zuhause vom russisch kontrollierten Separatistengebiet von Luhansk.
Während Alyona vom Großen Vaterländischen Krieg spricht, hat Iryna für den 9. Mai, den Tag des Sieges nur Verachtung übrig - sie erinnert der Tag an sowjetische Unterdrückung. Alyona wuchs mit dem Narrativ von Stepan Bandera als Verräter, Massenmörder und Faschist auf und begann erst später, die geschichtlichen Zusammenhänge mit ihren Ambivalenzen wahrzunehmen.
Bandera war der führende Kopf der ukrainischen nationalistischen Bewegung in den 30er bis 50er Jahren. Schon zu Lebzeiten wurde er zum Symbol für den Kampf gegen die Sowjetmacht. Als junger Mann organisierte er Terroranschläge und war maßgeblich am Holocaust und an Massakern gegen die polnische Zivilbevölkerung beteiligt. Diese Tatsache verdrängen ukrainische Nationalisten heute gerne. In Irynas Heimat in der Westukraine wurden für ihn in den letzten 20 Jahren neue Denkmäler und Museen errichtet.
Von West nach Ost, von Uschgorod nach Schtschastja sind es knapp 1500 Kilometer. »Sie haben Schtschastja als Erstes ›befreit‹«, sagt Alyona zynisch. »Von unserer Freiheit, unserer Existenz, von allem, was uns lieb war.« Die zierliche kleine Frau spricht ruhig und sachte, als würden die Buchstaben seufzen, bevor sie sich zu Worten zusammenfügen. Ihr Geburtsland ist Russland, ihre Muttersprache Russisch, der Pass und das Herz ukrainisch. Ihr Ex-Mann vertritt verhärtete prorussische Positionen.
17 Stunden dauert die Fahrt ins schwäbische Reutlingen, die von der Reportageschule im Ort organisiert wurde. Man richtet sich ein, so gut es geht, mit unbequemen Schlafpositionen und überteuerten Tomaten-Mozzarella-Panini von der Tankstelle, schießt verwackelte Handyfotos von der Alpenlandschaft. Je näher sie der neuen Fremde kommen, desto mehr rückt die Heimat ins Zentrum der Gedanken. Mischa, Irynas Mann ist Soldat in Uschgorod. Alyonas Mutter und Schwester blieben in einem Dorf im Donbass - Handyempfang haben sie dort seit Wochen keinen -, ihre 23-jährige Tochter und die wenige Monate alte Enkelin in den Separatistengebieten. Iryna, Alyona und eine dritte Frau aus Kiew, die auch im Bus sitzt, unterbrechen sich gegenseitig, um ihre Geschichten zu erzählen. Die Kinder bleiben unheimlich stumm.
Das war vor zwei Wochen, die sich wie Monate, vielleicht Jahre anfühlen, sagen sie jetzt. In der ersten Nacht in Deutschland rief eine Warn-App Iryna und die Kinder mit einem unerträglich lautem »Wwwwwwwhhh« aus dem Schlaf, als in Uschgorod die Sirenen losheulten. Am Tag darauf verbannte sie die App von ihrem Telefon. Registrierung, Einschulung, Sprachkurs, ein Fernsehinterview, demonstrieren gehen, Benefizkonzert für die Ukraine - die schwäbischen Lokalzeitungen berichteten. Iryna hat viel zu tun.
Jetzt kauert sie auf dem Sofa in der Reutlinger Reportageschule, mit der sie engen Kontakt hält, in Tränen aufgelöst. Vor zwei Stunden sind russische Raketen in einem Wohngebiet in Lwiw eingeschlagen. Lwiw liegt vier Stunden von ihrem Zuhause entfernt, das bisher vom Krieg verschont geblieben war. Zum Weinen bleiben Iryna noch 25 Minuten - dann muss sie in einem Zoom-Call mit deutschen Journalisten professionell auftreten und ihre Geschichte erzählen. Sie ist extra zu früh losgegangen, damit ihre Kinder sie nicht so sehen.
Der dick aufgetragene schwarze Maskara fließt die Wangen hinab. Schon zweimal hat sie sich abgeschminkt und alles neu auftragen müssen. Sie beißt in eine Praline in Blümchenform, dann noch eine und noch eine, nimmt einen Schluck Schwarztee. Fängt sich. »Bis jetzt habe ich ständig gezweifelt, ob ich das Richtige getan habe, als ich von Mischa weg bin. Heute weiß ich es. Die Kinder sind in Sicherheit.« In Uschgorod liebte sie ihre Arbeit, ihre Freunde, ihren Ehemann, ihr Leben. Muss Mischa an die Front? Er hat keine kugelsichere Weste, keine Ausrüstung. Iryna zerfließt wieder. Kurze Zeit später sagen die Journalisten ihr auf Zoom, was für eine starke Frau sie sei und wie gut sie sich halte.
Alyona kann nicht weinen, bisher noch kein einziges Mal. Packt stattdessen Kiste um Kiste mit Thunfisch in der Dose und Mehl in große Kartons, die dann in großen Lastwagen an die ukrainische Grenze rollen, schickt ein Selfie davon in die Whatsapp-Gruppe mit den anderen Frauen, die mit ihr im Minibus saßen. Betreut Kinder der ukrainischen Neuankömmlinge im Integrationszentrum von Dialog e. V., das gerade aus allen Nähten platzt.
Als Alyona in den ersten Kriegstagen im Keller ausharrt, und die Nachbarn berichten, dass im Dorf nebenan die Panzer fahren und schon die russische Flagge gehisst wird, weiß sie, ihr bleiben nur wenige Stunden. Sie verteilt das Trockenfutter für die Katze auf dem Boden ihrer Wohnung, bittet die Nachbarin, Mutter und Schwester Bescheid zu sagen. Packt das Nötigste ein und steigt ins Auto des Nachbars.
Zwei Wochen später lächelt sie entspannt und trinkt Schwarztee mit Zitrone in der Reutlinger »Genusswerkstatt«. Schon der Name des Cafés ist Lichtjahre entfernt vom Leben in ihrem Zuhause. Schtschastja, so wie sie es kannte, ihr Lädchen, in dem sie Nähutensilien verkaufte, gibt es nicht mehr - und wird es vielleicht nie wieder geben.
In der »Genusswerkstatt« spielt sie das Video ab, das ihr Nachbar aus dem Auto heraus aufgenommen hat: Man sieht die von den Geschossen schon seit 2014 aufgeschürfte Straße, auf der sie fahren; auf der rechten Seite gehen die Wohnhäuser im Flammen auf, niemand versucht, sie zu löschen. Feuerrot vor grauem Himmel. Am Straßenrand liegen Leichen, Alyona versucht nicht hinzuschauen. Ihr Haus liegt etwa 40 Meter entfernt, es steht noch. Schtschastja ist jetzt russisch. Dort zu bleiben und ihre ukrainische Identität aufzugeben, käme dem Tod gleich, sagt sie.
Wenn sie per Video mit ihrer Tochter spricht, sagt die nur: »Mama, ich habe dich lieb. Lass uns nicht darüber reden, alles ist in Ordnung.« Alyona imitiert die Kussgeräusche, die sie sich virtuell zusenden. Die Tochter hat Angst, von den Russen abgehört zu werden.
Alyona mag Reutlingen und ihre Gastfamilie. Aber sie weiß nicht, wie lange sie bleiben kann, ohne zur Last zu fallen. Was, wenn es ein Jahr wird? Von der neuen Welt in Deutschland kann sie zu Hause niemandem erzählen. Sie schämt sich dafür, wie gut es ihr hier geht. Hat in der Stuttgarter Staatsgalerie schon Bilder von Monet gesehen, lauschte in der Philharmonie einem Tangokonzert. Eine Melodie erkannte sie wieder, die Filmmusik aus »Der Duft der Frauen« mit Al Pacino.
Alyona sagt, im Krieg 2014 hätten die Ukrainer in Kiew den Menschen im Donbass die Schuld an der Übernahme der Separatisten und am Krieg selbst gegeben. Mit ihrer Tochter floh sie nach Odessa am Schwarzen Meer, dort fühlten sie sich als Ukrainerinnen »fremd unter den eigenen Leuten«.
Iryna sagt hingegen, Alyonas Gefühl sei das Resultat einer prorussischen Propaganda, die das ukrainische Volk entzweien wolle und Lügen streue. »Damit Alyona und andere nachts ruhig schlafen konnten, hat der Patenonkel meines Sohnes im Donbass gekämpft und wurde zweimal am Kopf verwundet.« Für Iryna sind sie ein Volk ohne Hierarchien, von Uschgorod bis zum Donbass, alle gehören dazu. Aber Russisch sprechen sei im Westen des Landes eben schon seit den 90er Jahren nicht mehr cool. »Ira läuft durch deutsche Supermärkte und sucht gezielt nach russischen Produkten, um sich darüber zu beklagen, dass sie noch verkauft werden. Wozu? Sie hat Fliegeralarm erlebt, aber in ihrem Leben noch nie den echten Krieg gesehen. Wenn du zusammen im Keller hockst und beschossen wirst, interessiert es niemanden, ob du Russisch oder Ukrainisch sprichst.« Im Donbass sprechen sie eben beides.
Hier in Reutlingen sind Iryna und Alyona Freundinnen, gehen gemeinsam zu Lidl und Aldi, treffen sich mit anderen Frauen bei Dialog e. V. Hier sind sie Geflüchtete, alles andere bleibt nebensächlich, Politik auch. Der Krieg hat die Menschen aus allen Lebensrichtungen zusammengeschweißt, man ist froh, mit dem Leben davongekommen zu sein.
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