Trennung der Geschlechter als Priorität

Zunehmende Proteste gegen Taliban-Entscheidung zur Schließung von Mädchenschulen in Afghanistan

  • Thomas Ruttig
  • Lesedauer: 5 Min.

»Sonst kamen meine Töchter immer zwischen 12 und ein Uhr von der Schule nach Hause, aber an jenem Tag kamen sie schon um zehn«, sagt Barjalai Hakimi, Vater von drei Töchtern im Alter von 12 bis 18 Jahren, Gemüsehändler in der Stadt Ghazni, 150 Kilometer südlich von Kabul. »Ich war schockiert und in Sorge, was ihnen zugestoßen sein könnte. Dann beschrieben sie mit Tränen in den Augen, was vorgefallen war. Ich fühlte mich enttäuscht, hilflos und erniedrigt, denn trotz vieler Schwierigkeiten und Geldproblemen habe ich immer versucht, für meine Mädchen zu sorgen, damit sie studieren und die Zukunft unseres Landes werden können. Wenn sie nicht studieren können, wird das Land rückständig bleiben.«

Marjam Ibrahimi*, eine 16-jährige Schülerin, hatte an jenem Tag bereits eine halbe Stunde im Geografieunterricht gesessen, als eine Lehrkraft in die Klasse kam und sagte, es sei angeordnet worden, dass sie die Schule, eine Mädchenschule, schließen müssten. »Wie alle anderen hatte ich meine neue Schuluniform an und meine Bücher, die Schultasche und Schreibzeug dabei. Ich hatte sogar Material für meine Aufnahmeprüfung für die Universität vorbereitet«, sagt sie. »Mein Vater war so traurig und besorgt. ›Es ist dein letztes Jahr‹, sagte er. ›Die Schulschließung könnte dir schaden.‹«

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So wie Marjam und Barjalai fühlen sich viele Afghan*innen, nachdem die Talibanregierung am 23. März entgegen wiederholten Ankündigungen überraschend anordnete, dass auch im neuen Schuljahr - das mit Frühlingsanfang begann - die höheren Mädchenschulen ab Klasse 7 doch nicht wieder geöffnet werden. Die Entscheidung kam von ganz oben, vom religiösen Chef der Taliban, ihrem Amir Al-Momenin (»Oberhaupt der Gläubigen«), dem öffentlichkeitsscheuen Haibatullah Akhundzada im südafghanischen Kandahar. Das Argument der Ultrakonservativen, wie von Bildungsminister Nurullah Munir vorgetragen, ist: Nach Klasse 6 führe gemeinsames Lernen von Jungen und Mädchen zu fisat, einem Scharia-Konzept, das etwa »schlechtes Benehmen« bedeutet. Es geht den Taliban also weniger um Bildung als um Trennung der Geschlechter, im Sinne des Wortes. Die pragmatischeren Talibanführer haben die interne Kraftprobe um die Mädchenbildung verloren.

Die Entscheidung sorgte dafür, dass weiterführende Mädchenschulen in den Provinzen ebenfalls schließen mussten. Dort waren einige geöffnet geblieben - auch nach Machtübernahme der Taliban am 15. August - auf Druck örtlicher Gemeinschaften in Abstimmung mit lokalen Taliban-Vertretern, so in der westafghanischen Großstadt Herat, wo die Schließung sogar erst am zweiten Tag vollzogen wurde. Dass die Schulen dort bis dahin überhaupt geöffnet waren, lag an der mutigen Schülerin Sotuda Forutan. Am Geburtstag des Propheten Mohammad, am 21. Oktober, hatte sie eigentlich vor Taliban-Offiziellen ein Gedicht vortragen sollen. Stattdessen bat sie in einer kurzen Rede, die Mädchenschulen offen zu halten. Sogar die Taliban, die ihr zugehört hatten, applaudierten, wie die von afghanischen Frauen betriebene Nachrichtenagentur Rukhshana berichtete.

Unmittelbar nach der Schließung gingen mutige Schülerinnen, unterstützt von Frauenrechtlerinnen und auch ein paar Männern, in Kabul und Herat zu Protesten auf die Straße. Mittlerweile protestieren sogar Geistliche. Scheich Faqirullah Faeq aus Kabul sagte in einer im Internet verbreiteten Audiobotschaft, der Islam erlaube Mädchenbildung »sowohl in modernen wie religiösen Fächern«, und er werde bis zum Talibanchef gehen, wenn seine Argumente nicht angehört würden. »Die Ungläubigen (d.h. Nichtmuslime) lachen über uns. Sie nennen uns ›Wilde‹, weil wir uns nicht auf die wichtigen Dinge, sondern auf Nebensachen konzentrieren«, sagte er.

Am Freitag, vor Beginn des Fastenmonats Ramadan, sprachen sich auch die Teilnehmer eines größeren Treffens von Islamgelehrten in Kabul für die Schulöffnung aus, sagten aber - wie die Taliban -, dass die Mädchen sich verschleiern und getrennt von den Jungen lernen müssten. Sie sagten aber auch, getrennte Schichten für Mädchen und Jungen seien ausreichend. So ist Afghanistans Schulsystem aber schon längst organisiert. Einige Taliban fordern aber, dass Mädchen und Jungen in getrennten Schulgebäuden lernen sollen. Das umzusetzen, würde Mädchenbildung für viele auf Jahrzehnte unmöglich machen. Denn trotz Milliardeninvestitionen während der US-geführten Militärintervention von 2001 bis 2021 verfügte zum Schluss nur etwa die Hälfte aller Schulen im Land überhaupt über ein Gebäude. Der Rest der Kinder saß in Zelten oder, wenn das Wetter es erlaubte, im Freien.

Auf alle Fälle schossen die Taliban mit der Schulschließung ein politisches Eigentor. Die von ihnen angestrebte diplomatische Anerkennung dürfte dadurch in weite Ferne rücken. Es dämpfte auch die Gebefreudigkeit der westlichen Staaten weiter. Bei einer Online-Konferenz, bei der die Uno vorige Woche 4,4 Milliarden Dollar für humanitäre Zwecke in Afghanistan einwerben wollten, kam nach offiziellen Angaben nur die Hälfte davon zusammen. Laut Andrew Watkins vom US-Friedensinstitut in Washington sei es real sogar nur ein Viertel.

Die Frage ist nun, ob die Taliban politisch nachsteuern. Ein Plan für die Wiedereröffnung nach islamischen Kriterien sei in Vorbereitung, so Taliban-Außenminister Amir Khan Mutaqi vorige Woche bei einem regionalen Treffen mit Amtskollegen in China.

* Namen zum Schutz der Interviewten verändert. Unter Verwendung von Material des Afghanistan Analysts Network in Kabul, das der Autor 2009 mitbegründete.

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