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  • Obdachlosigkeit in Berlin

Vom Zählen zum Helfen

Die Vorbereitungen für die zweite Erhebung zu obdachlosen Menschen in der Hauptstadt sind angelaufen

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.
Obdachlosigkeit in Berlin – Vom Zählen zum Helfen

Niemand kommt in Berlin an ihr vorbei. Und doch sei Obdachlosigkeit ein Thema, was gern umschifft wird, sagt Bálint Vojtonovszki. Er leitet für den Verband für sozial-kulturelle Arbeit das Projekt Zeit der Solidarität, das im Juni eine weitere Etappe nehmen soll: die zweite zahlenmäßige Erfassung von akut obdachlosen Menschen. Diese hatte im Januar 2020 zum ersten Mal in der Form stadtweit stattgefunden.

Obdachlosenzählung in Berlin

Im Januar 2020 wurden bei der ersten stadtweiten Erfassung 1976 obdachlose Menschen gezählt. Demnach wurden von den über 2600 Freiwilligen, die in kleinen Teams das Stadtgebiet abgelaufen hatten, insgesamt 807 Menschen im öffentlichen Raum registriert.

15 obdachlose Menschen wurden in Rettungsstellen der Krankenhäuser gezählt, 158 im Öffentlichen Nahverkehr. Weitere 12 befanden sich in Polizeigewahrsam, 942 in Einrichtungen der Kältehilfe und 42 im Warte- und Wärmeraum Gitschiner Straße 15.

600 Teams mit mindestens drei Personen sollen am 22. Juni 2022 zum zweiten Mal in der Hauptstadt die Zahl obdachloser Menschen erfassen, seit Freitag werden die Freiwilligen in wöchentlichen Treffen auf ihre Aufgabe vorbereitet.

Im Winter 2024 soll die dritte Erhebung stattfinden.

Das Projekt Zeit der Solidarität wird finanziell getragen von der Lotto-Stiftung, ist aber auch im vorläufigen Landeshaushalt 2022/2023 verzeichnet. clk

Ziel sei auch bei der diesmal im Sommer stattfindenden Erhebung nicht, Zahlen allein »zum Selbstzweck« zu erhalten, sagt Vojtonovszki. Es gehe vielmehr darum, das Thema Obdachlosigkeit noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen und ihre Abschaffung auf die politische Agenda zu setzen. »Diese nächtliche Aktion ist nicht nur Datenerfassung, sie soll ein Zeichen der Empathie und des Interesses sein«, erklärt der Soziologe, der seit 2014 in Berlin lebt und arbeitet und bereits als Mobiler Berater, Streetworker und Mitarbeiter in der Kältehilfe beschäftigt war.

Es gehe außerdem darum, herauszufinden, was konkret die Menschen auf der Straße benötigten, so Vojtonovski weiter. Und im Rahmen des Projekts darum, herauszufinden: »Welche Sprachlotsen brauchen wir, was muss an Angeboten für Frauen anders sein als an Angeboten für Männer?« Es sei auch zu klären, ob sich Berlin zum Anziehungspunkt entwickele, weil es hier für Menschen ohne Obdach etwas leichter sei, auf der Straße durchzukommen als in anderen europäischen Großstädten.

In diese Richtung hatte sich bereits nach der Erhebung vor über zwei Jahren die Debatte entwickelt. Der Umstand, dass die zahlenmäßigen Annahmen zu den Menschen, die in der Hauptstadt auf der Straße leben, oft sehr weit auseinander gelegen hatten, war nur ein Ausgangspunkt. Von bis zu 10 000 war zuweilen die Rede gewesen, wobei bei sozialen Organisationen zuletzt die Zahl 5000 als wahrscheinlicher gegolten hatte. In der Nacht der Solidarität waren dann knapp 2000 Menschen ohne Obdach angetroffen worden.

Um den Fokus mehr auf die Beantwortung der Frage zu legen, welche Menschen und Bedürfnisse sich hinter den allgemein als Gruppe wahrgenommenen Obdachlosen verbergen, hatte man die Zählung mit einer einfachen freiwilligen Befragung verbunden. Jede dritte Person, die im öffentlichen Raum angetroffen worden war, hatte sich damals daran beteiligt. Sie beantworteten fünf kurze mehrsprachig aufgeführte Fragen zu Alter, Geschlecht, der Konstellation, in der sie auf der Straße lebten, zu Haustieren und Herkunft. In der Auswertung hatte sich unter anderem herausgestellt, dass viel mehr Frauen und viel mehr Menschen in Partnerschaften Obdachlosigkeit bewältigen als angenommen.

»Im Juni werden wir dieselben Fragen stellen«, erklärt Bálint Vojtonovszki im Vorfeld der Vorbereitung der zweiten Erhebung. Ein längerer Fragebogen würde in seinen Augen dazu führen, dass es den Menschen unangenehm sein könnte, sich zu beteiligen. »Wir wollen niemanden erschrecken und belästigen.« Vielmehr wolle man mit dem gewählten Zeitpunkt betonen, dass die Problemlagen der Menschen im Sommer andere seien als Winter – es sei zum Beispiel nicht automatisch leichter, weil es wärmer ist, dann aber auch die Angebote der Kältehilfe fehlten, auf die bis zuletzt 1025 Menschen zurückgegriffen hatten – die Saison endet bekanntlich Ende März.

Man wisse außerdem, dass Obdach- und Wohnungslose sehr mobil in der ganzen Stadt unterwegs seien, insofern sollen die Erkenntnisse auch ein Beitrag zu einer zukünftigen Wohnungslosenstatistik sein, deren Erstellung der Berliner Senat seit längerem anstrebt, erklärt Vojtonovszki. In den letzten Monaten habe man per Besuchstouren viele Menschen in Tageseinrichtungen für Obdachlose getroffen und sie über die Erhebung informiert. »Was zwischen den Zählungen passiert, ist wichtiger als die Zählungen selbst«, sagt der Projektleiter – oder anders: Wenn Berlin bis 2030 das selbsterklärte Ziel, Obdachlosigkeit zu beenden, erreichen will, muss noch so einiges passieren.

Sein Team will vor allem dazu beitragen, dass sich mehr Menschen für das Problem interessieren. »Wir wollen das Engagement vergrößern, die Beteiligung an der Zählung soll ein Türöffner ein«, ergänzt Constanze Paust, Leiterin der Freiwilligenagentur Marzahn-Hellersdorf, die sich um Organisation und Betreuung der Freiwilligen kümmert. Es klinge romantisch, aber: »Wir wollen mehr Zusammenhalt«, so Paust.

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