»Sie erfinden jeden Tag neue Gesetze«

Die russische Band Imperial Age über ihren Neuanfang im Westen, Russophobie und Putins Propaganda

  • Olaf Neumann
  • Lesedauer: 7 Min.
»Wir leben im 21. Jahrhundert!« Die russische Band Imperial Age bei einem Liveauftritt 2018 – in der Mitte Alexander Osipov, rechts daneben Jane Odintsova
»Wir leben im 21. Jahrhundert!« Die russische Band Imperial Age bei einem Liveauftritt 2018 – in der Mitte Alexander Osipov, rechts daneben Jane Odintsova

Sie haben Russland jetzt verlassen. Auf welchen Wegen?

Imperial Age
Zu den russischen Künstlern, die gegen Putins Überfall auf die Ukraine protestieren und nicht so tun, als sei da kein Krieg, gehört die Band Imperial Age aus Moskau. Sie ist weltweit bekannt für ihren Symphonic-Metal, den sie auf der Bühne spektakulär mit Kammerorchester, Chor und großer Lichtshow präsentiert. Vier der sechs Bandmitglieder haben Russland bereits verlassen. Die Band wurde 2012 gegründet von den beiden Sänger*innen Jane »Corn« Odintsova (Mezzosopran) und Alexander »Aor« Osipov (Tenor). Soeben ist von Imperial Age die Single »The Way Is The Aim« erschienen, als Vorbote des neuen, Anfang August erwarteten Studioalbums »New World«.

Jane »Corn« Odintsova: Mit dem Flugzeug. Es war eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, aus dem Land herauszukommen. Wir haben unseren großen Studiocomputer gerettet, zudem ein kleines Midi-Keyboard mit unseren In-Ear-Kopfhörern und einige Mikrofone. Und das Wichtigste: Wir konnten unsere Katze mitnehmen.

Und was haben Sie in Moskau zurücklassen müssen?

Alexander »Aor« Osipov: Alles. Zwei Autos. Eine Wohnung. Das komplette Band-Equipment: Allein drei Keyboards von mir. Studio-Monitore. Reguläre Monitore, Computer, Mischpulte und zwei Gitarren. Unser ganzes zukünftiges Leben mussten wir über Nacht in vier Koffern verstauen.
Odintsova: Es besteht immer noch Hoffnung, all diese Dinge irgendwie hierherzubekommen. Schauen wir mal.

Wann haben Sie beschlossen, Ihre Heimat für immer zu verlassen?

Osipov: Als der Krieg begann. Es gab kein Zögern. Wir konnten nicht glauben, was da passiert, hatten aber bereits Pläne für solch einen Fall geschmiedet. In den letzten zehn Jahren haben wir uns rote Linien gesetzt: Wir gehen, wenn das Internet oder soziale Medien blockiert werden, wenn die Grenze geschlossen wird oder wenn ein Krieg ausbricht. Und plötzlich geschahen alle drei Dinge gleichzeitig - über Nacht, was uns absolut keine Wahl ließ. Niemand in Russland hat daran geglaubt, dass dieser Krieg wirklich passieren würde. Jeder in Russland hat über die Amerikaner gelacht - sowohl Putin-Befürworter als auch Putin-Gegner. Aber die Regierung in Washington hatte recht.

Wo sind Sie jetzt untergekommen?

Odintsova: In einem Apartment-Hotel in der Nähe von Antalya. Wir haben aber bereits eine Wohnung für ein Jahr gemietet. So lange dürfen wir uns in der Türkei aufhalten.

Haben Sie Ihr neues Album »New World«, das am 5. August erscheinen soll, noch in Russland fertigstellen können?

Osipov: Ja, wir haben großes Glück, dass wir das noch geschafft haben. Die Aufnahmen haben wir hier bei uns. Aber unsere geplante Groß-Britannien-Tour mussten wir absagen.

Wie wichtig sind für Sie Konzerte in Westeuropa?

Osipov: Westeuropa und die Vereinigten Staaten sind unser Kernmarkt. Ohne unsere Fans in Amerika, England, Deutschland und Frankreich würden wir als Band nicht mehr existieren.
Odintsova: Wir haben immer versucht, unsere Musik der ganzen Welt zu schenken.

Die internationale Musikwelt streitet gerade über den Umgang mit russischen Künstlern. Manche von ihnen werden allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit wieder ausgeladen. Wie denken Sie darüber?

Osipov: Zunächst einmal haben wir uns nie als explizit russische Band betrachtet. Das einzige, was an Imperial Age russisch ist, sind unsere Pässe. Die Musik selbst ist nicht an eine Region, eine bestimmte Sprache oder Kultur gebunden. Wir sehen uns als Bürger des Planeten Erde. Aber es gibt leider Leute, die Menschen nach ihrem Geburtsland abstempeln. Dabei kann sich niemand aussuchen, wo er geboren wird. Erfreulicherweise versteht unser Publikum, dass wir absolut gegen das sind, was da gerade vor sich geht.

Sie haben Ihr Publikum auf der ganzen Welt, einschließlich in der Ukraine. Sie fordern Frieden und Freiheit - »überall und für jeden«, wie es in einem Ihrer Statements heißt. Hatten Sie das auch schon in Russland getan?

Osipov: Das haben wir in Russland bereits öffentlich bekundet, auch auf Facebook. Und speziell auf Russisch gepostet. Wenn Sie in den Kommentaren nachschauen, werden Sie sehen, dass ich viel Zeit damit verbringe, mit Leuten persönlich in viel härteren Worten zu argumentieren, als wir es als Band tun. Damit habe ich in Russland Straftaten begangen. Sie erfinden jeden Tag neue Gesetze. Wenn man auf die Straße geht und wirklich etwas gegen den Krieg sagt, wird man bestraft. Alles, was du sagst, kann dich ins Gefängnis bringen - für maximal 15 Jahre.
Odintsova: Wenn sie dich ins Gefängnis stecken wollen, werden sie einen Beweis gegen dich finden. Du kannst eigentlich nur zu Hause sitzen und nichts tun.

Wie haben Sie vor dem Ukraine-Krieg in Russland gelebt?

Odintsova: Wir probten zweimal pro Woche und bereiteten uns auf die Auftritte im Vereinigten Königreich vor. Wir hatten so ziemlich alles für diese Tournee organisiert. Unser Leben war voll von musikalischen Aktivitäten. Das ist unsere Hauptbeschäftigung.
Osipov: Als international orientierte Band in Russland hatte man es nie einfach. Alles, was über die Grenze kam und kommt - seien es Menschen, Geld, Waren oder eben Ideen - wurde und wird vom russischen Staat als verdächtig angesehen und von dessen Organen so weit wie möglich kontrolliert. Russland ist eines der wenigen Länder der Welt, die noch eine Währungskontrolle haben. Verstöße dagegen werden mit drakonischen Strafen geahndet. Einen russischen Webshop zu unterhalten, ist derzeit völlig unmöglich. Aber schon vor dem Krieg war es sehr schwierig, Zahlungen aus dem Ausland anzunehmen.

Glauben Sie, dass Ihre Zukunft in den USA liegt?

Osipov: Ja, wir bereiten uns darauf vor, in die USA zu ziehen. Wir werden noch ein Jahr lang in der Türkei bleiben, um erst einmal alle Dokumente und das nötige Geld zusammenzusuchen. Sobald wir alles beisammen haben, werden wir in die USA auswandern. Sollte das nicht möglich sein, möchten wir nach Großbritannien übersiedeln.

Und was wollen Ihre anderen Bandkollegen tun?

Osipov: Anna und Paul sind jetzt in Montenegro, weil sie dort eine Wohnung haben. Sie werden Teil jedoch unseres Visumantrags für die Vereinigten Staaten sein. Belf und Max jedoch sind familiär angebunden, haben Kinder, weshalb sie vorerst in Moskau bleiben. Wenn es für sie möglich ist zu reisen, werden sie mit uns gehen. Wenn nicht - was können wir tun?

Das Leben ist für Ihre daheimgebliebenen Angehörigen sehr kompliziert geworden.

Osipov: Ja. Wir versuchen, sie zu unterstützen, so gut wir können. Das Problem ist, dass wir im Moment kein Geld ins Land schicken können. Wir arbeiten an einer Lösung.

Haben Sie das Gefühl, dass es für Russen im Ausland gefährlich sein könnte, gegen Putin und die Invasion in der Ukraine zu protestieren?

Osipov: Es besteht ein gewisser Grad an Gefahr, aber es ist natürlich sicherer als in Russland selbst.

Befürchten Sie, dass Ihr Protest Konsequenzen für Ihre Freunde in Moskau haben könnte?

Osipov: Ja. Deshalb können wir nicht alles sagen und tun, was wir gerne sagen und tun würden.

Glauben Sie, dass Sie in Russland noch eine Zukunft haben könnten?

Osipov: Auf jeden Fall nicht unter diesem Regime! Die Ideologie der Herrschenden beruht auf der Annahme, dass sie das ganze Land, die gesamte Bevölkerung vertreten. Demokratische Regierungen versuchen das eher nicht. Ein Olaf Scholz sagt nicht: »Ich bin das Land! Wer gegen meine Interessen ist, ist gegen Deutschland!« Wenn totalitäre Regime von den Interessen des Landes sprechen, meinen sie in Wirklichkeit ihre eigenen Interessen. Propaganda versucht die Unterschiede zwischen Volk und Administration zu verdecken. In Wirklichkeit sind die Interessen oft entgegengesetzt. Viele Russen wollen einfach ein normales Leben führen wie alle anderen Völker auch. Sie haben nix vom Krieg. Ich muss aber auch einräumen, auch wenn ich es nur ungern tue, dass viele Menschen in Russland hinter Putin stehen, ihn unterstützen. Mit vielen von ihnen habe ich diskutiert. Aber es scheint schwer, das, was auf der Hand liegt und logisch ist, zu verstehen.

Die russische Propaganda funktioniert.

Odintsova: Da haben sie leider recht. Ich persönlich war schockiert, als ich erfuhr, dass viele Menschen das wirklich glauben, was ihnen die Propaganda auftischt, dass sie bereit sind, Lügen zu schlucken.
Osipov: Selbst ein fünfjähriges Kind spürt, was richtig und was falsch ist. Ich irrte jedoch, als ich glaubte, dass diese Lügen es nicht wert seien, zerpflückt zu werden, weil sie zu offensichtlich sind. Aber dann bemerkte ich, dass ich die Propagandisten unterschätzt habe. Und ich habe diejenigen überschätzt, die diese Propaganda willig einsaugen. Wir leben im 21. Jahrhundert - und immer noch scheinen Menschen bereit zu sein, alle Informationen, die man ihnen vorsetzt, auch vollkommen haltlose, bedenkenlos zu fressen. Eigenes Denken und Nachforschen ist natürlich aufwendig und erfordert Mut. Denn dann widerspricht man vielleicht der Mehrheit und wird zum Außenseiter. Es ist viel einfacher zu schlucken, was einem suggeriert wird, in der Hoffnung, dass man in der Menge nicht auffällt. Das ist traurig, aber wahr. Vielleicht auch einfach menschlich.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.