Lieber Vater, gute Russen

Ein Buch über die sowjetischen Flieger, die 1966 in den Westberliner Stößensee abstürzten

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.

»Jura, wahrscheinlich musst du jetzt springen«, sagt der sowjetische Hauptmann Boris Kapustin zu seinem Co-Piloten Juri Janow. Der lehnt es aber ab, seinen Schleudersitz auszulösen: »Boris Wladislawowitsch, ich bleibe bei Ihnen.« Kapustin versucht es noch einmal: »Jura, spring!« Doch Oberleutnant Janow bleibt fest: »Kommandeur, ich bleibe.«

An dem Jagdflugzeug vom Typ Jak-28P sind am 6. April 1966 am Himmel über Westberlin beide Triebwerke ausgefallen. Der Flugschreiber hat den Wortwechsel aufgezeichnet. Die Maschine stürzt in den Stößensee. Die sowjetischen Offiziere, beide 34 Jahre alt, kommen ums Leben. Möglicherweise haben sie sich geopfert. Denn wären sie abgesprungen, wäre das Wrack vielleicht in ein Wohngebiet gestürzt und es wären viele Zivilisten gestorben. Andererseits ist unklar, ob die Piloten das defekte Flugzeug überhaupt noch so weit unter Kontrolle hatten, um es absichtlich in den See zu lenken.

Das haben Gesine Dornblüth und Thomas Franke nach so langer Zeit nicht mehr bis ins Detail aufklären können. Dennoch stellen sie in ihrem jetzt veröffentlichten Buch »Ruhmlose Helden«, in dem sie die Ereignisse beleuchten, einiges richtig.

Von Anfang an sind sich die Menschen nicht einig über die Bewertung des Vorfalls. Die »Berliner Morgenpost« aus dem Westen der Stadt kommentiert 1966, an dem Drama seien »allein die Sowjets schuld, die, entgegen dem Gebaren in allen zivilisierten Ländern, spektakuläre Luftmanöver über dicht besiedeltem Gebiet anordnen«. Die »Berliner Zeitung« aus dem Osten kontert: »Die Springer-Gazetten können kläffen, wie sie wollen, sie werden das Andenken an zwei sowjetische Soldaten, die ihr Leben für andere hingaben, nicht besudeln.«

Aber auch in der Westberliner Bevölkerung gehen die Meinungen auseinander. Einerseits werfen deutsche Augenzeugen Steine nach sowjetischen Soldaten, die am Tag des Unglücks am Stößensee auftauchen und das Wrack bergen wollen, was britische Truppen verhindern, in deren Sektor der See liegt. Die Westberliner sind erzürnt, weil sowjetische Jagdflieger absichtlich mit Überschallgeschwindigkeit über Westberlin donnern und mit dem Lärm die Bewohner zermürben. Andererseits dankt der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD) für den Kapustins und Janows Opfermut, der Schlimmeres verhindert habe. Schon an ihn, später auch an andere Politiker, wenden sich Bürger mit der Idee, die beiden Toten zu ehren oder den Hinterbliebenen zu helfen.

Für eine Gedenktafel kämpft lange Konrad Tybus, ein Westberliner mit jüdischen Wurzeln und ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Als die Gedenktafel 1993 endlich am Stößensee angebracht wird, lädt der Bezirk Spandau weder Tybus noch russisches Militär dazu ein. Der Kalte Krieg ist vorbei, doch Vorbehalte bestehen weiter.

Auch in der Heimat von Kapustin und Janow ist das Erinnern an die beiden Männer so eine Sache. Sie werden dort zwar als Helden eingestuft, aber nicht als Helden der Sowjetunion ausgezeichnet. Warum? Ihre brandneue Jak-28P ist durch den Absturz in Westberlin den Briten in die Hände gefallen, die sich damit ein Bild von der geheimen Technik machen können. Das System der Freund-Feind-Kennung, mit der sich Flugzeuge und Schiffe im Gefecht zuordnen lassen, hat die Nato so auch bekommen.

1997 behauptet die russische Zeitung »Komsomolskaja Prawda«, Kapustin habe eigenmächtig den Weg über Westberlin abgekürzt und dort keck eine Schraube gedreht, wobei beide Motoren absoffen. Er sei also selbst schuld. Witwe Galina und Sohn Waleri müssen eine Gegendarstellung erzwingen. Ein Gericht stellt fest: Qualitätsmängel bei der Produktion der Motoren verursachten den Absturz.

Nach Boris Kapustin sind in seiner Heimatstadt Rostow am Don, wo er begraben liegt, eine Straße und eine Schule benannt. Er wird als belesener und freundlicher Mensch beschrieben, als liebender Ehemann und fürsorglicher Vater, der, anders als damals allgemein und zumal unter Offizieren üblich, nichts von autoritärer Erziehung hält und seiner Frau im Haushalt und bei der Arbeit hilft. Als er sich vor dem Start im brandenburgischen Finow von seiner Frau verabschiedet, läuft er noch zweimal zurück, um sie in die Arme zu schließen. Er könnte eine Vorahnung gehabt haben. Am 3. April hatte er die Jak-28P aus der Sowjetunion nach Köthen überführen sollen. Doch weil unterwegs einer der beiden Motoren ausfiel, musste er in Finow zwischenlanden, wo er stationiert war. Am 6. April ist die Maschine angeblich von den Mechanikern in Ordnung gebracht, stürzt aber 15 Minuten nach dem Start in den Stößensee.

Die Autoren Dornblüth und Franke schildern das bewegend. Sie haben die Witwe besucht und auch den Sohn, der als Kind schwer zu tragen hatte an der Last, sich immer so vorbildlich zu benehmen, wie es vom Sohn eines Helden erwartet wurde. Acht Jahre war Waleri alt, als sein Vater verunglückte.

Die Autoren trafen auch die junge Historikerin Anastassija Moissejewa, die sich dafür einsetzt, dass in Rostow am Don endlich ein Denkmal für Kapustin und Janow errichtet wird, sowie den Bildhauer Andrej Korobzow, der schon eins entworfen hat. Er muss das Modell in seinem Moskauer Atelier vom Staub befreien, um es Dornblüth zu zeigen. Die Frage der Finanzierung ist da noch nicht geklärt, aber Anastassija Moissejewa ist zuversichtlich - auch Witwe Galina Kapustina. »Zum Glück sind die jungen Leute heute wieder patriotisch«, sagt die hochbetagte Rentnerin, die Polen, Ukrainer und Russen zu ihren Vorfahren zählt und als Offiziersfrau in der DDR mit einer Verkäuferin befreundet war, die leider nur schlecht Russisch sprach.

Dass andere Offiziere von der Fliegersiedlung zum Flugplatz mit dem Rad fuhren, aber ihr Boris immer zu Fuß lief, erzählt Kapustina. Er lief so schnell wie der russische Präsident Wladimir Putin heute, sagt sie. Das ist natürlich alles vor dem Angriff auf die Ukraine ausgesprochen und aufgeschrieben worden. Trotzdem lenkt das Buch auf den schrecklichen Krieg hin, der nun tobt. Es erklärt politische Verhältnisse und schildert Gefühlswelten: was die Deutschen in Ost und West einst und heute über die Russen dachten und denken, warum alte Russen nach den traumatischen Erlebnissen der Ära von Präsident Boris Jelzin Sehnsucht nach der Sowjetunion verspüren und wie jungen Russen Stolz auf ihre Nation eingeimpft wird. Es tut manchmal weh, von den Menschen zu lesen, die sich in der einen oder anderen Frage irren und die hier und da auch ein bisschen vorgeführt werden - aber nicht böswillig. Es ist ein ehrliches Buch, dass die unangenehmen Seiten der Geschichte nicht ausspart.

Zur Gedenktafel für Kapustin und Janow auf dem Garnisonfriedhof von Eberswalde wird für das Buch Waldemar Hickel begleitet, der sich in der DDR in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) engagierte und in der Bundesrepublik in einer Freundschaftsgesellschaft weitermacht. Auch ein Treffen mit dem Pazifisten Friedemann Giller findet am Gedenkstein für Kapustin und Janow am Luftfahrtmuseum in Finowfurt statt. Der ist bereits in der DDR aus der DSF ausgetreten, weil diese eigentlich gut gewesen, aber missbraucht worden sei. Gillert macht sich keine Illusionen über die Lage in Russland, möchte dennoch Spenden für das Denkmal in Rostow am Don sammeln - bevor dann doch Anfang 2021 die Russländische Militärhistorische Gesellschaft umgerechnet 250 000 Euro für die Realisierung bewilligt.

Gillert bemüht sich weiter, die Erinnerung wachzuhalten. In einer E-Mail hatte er »nd« auf das Buch »Ruhmlose Helden« aufmerksam gemacht. »Ich hörte neulich aus anderer Richtung, dass man derzeit nichts über ›gute Russen‹ veröffentlicht. Das wäre doch sehr bedauerlich!«, schrieb er dazu.

Gesine Dornblüth, Thomas Franke: Ruhmlose Helden - Ein Flugzeugabsturz und die Tücken deutsch-russischer Verständigung. Bebra-Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.

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