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Plötzlich ganz mächtig
Die im Zusammenhang mit dem Sexismusskandal attackierte Janine Wissler führt Die Linke vorerst allein
Susanne Hennig-Wellsow war gar nicht mehr dabei. Der Parteivorstand der Linken hatte sich am Mittwochabend bereits ohne die nur wenige Stunden zuvor zurückgetretene Ex-Vorsitzende zu einer Online-Dringlichkeitssitzung zusammengeschaltet. Eigentlich hatte man nur über Sexismusvorwürfe gegen Genossen sprechen wollen, die anscheinend nicht nur den hessischen Landesverband, sondern die gesamte Partei betreffen, auch die bisherige Ko-Chefin Janine Wissler belasten und allein schon ausgereicht hatten, um die Linke aufs Neue aufzuwühlen.
Doch dann kam, urplötzlich, der Rücktritt von Hennig-Wellsow dazwischen. Das Karl-Liebknecht-Haus wirkte vollkommen überrumpelt, dem Anschein nach hatte niemand damit gerechnet, und auch der sich im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen befindende Fraktionschef Dietmar Bartsch wirkte völlig überrascht. In einem Statement hatte die erst vor gut einem Jahr ins Amt Gewählte mehrere Gründe für ihren Abgang angeführt: familiäre Doppelbelastung, Erneuerung der Partei, Umgang mit Sexismus.
Nun saßen die Vorstandsmitglieder also mit nur noch einer Chefin zusammen. Die Stimmung auf der Sitzung sei angespannt, aber auch konstruktiv gewesen, berichten Teilnehmer*innen. Wissler habe sich noch einmal bei ihrer bisherigen Mitstreiterin an der Parteispitze bedankt, heißt es übereinstimmend – allerdings nur sehr kurz, berichtet ein Teilnehmer. Das ist ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass Hennig-Wellsow Wissler in ihrem Statement am Mittwoch mit keiner Silbe erwähnte. Über das Verhältnis der beiden ist bislang wenig nach außen gedrungen, im Stil unterscheiden sie sich allerdings deutlich: Die Thüringerin wird als forsch und direkt beschrieben, die Hessin als vorsichtig und kontrolliert.
Schockstarre bei den Genoss*innen
Genauso forsch zog sich die eine nun zurück, während die andere trotz der Angriffe gegen ihre Person weiter macht – vorerst jedenfalls, wie auf der Sitzung entschieden wurde: Fürs erste wird Wissler, obwohl ihre Rolle im #LinkeMeToo-Komplex nicht geklärt ist, die Linke allein führen. Der Vorstand habe ein einstimmiges Votum dafür abgegeben, sagte Geschäftsführer Jörg Schindler am Donnerstag. Zugleich teilte er mit, dass das komplette Gremium auf dem Parteitag im Juni neu gewählt werden solle.
Interessant: In den sozialen Medien äußern sich die sonst so redefreudigen Genoss*innen eher einsilbig. Von den Grünen hatten sich am Mittwoch die Parteivorsitzende Ricarda Lang, Fraktionschefin Britta Haßelmann und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt auf Twitter zu Wort gemeldet – von den Linke-Fraktionschefs Bartsch und Amira Mohamed Ali war bis dato noch nichts gekommen, der Parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte schob am Donnerstag zwei Sätze nach. Schockstarre?
Jedenfalls bleiben Fragen offen: Warum ausgerechnet Hennig-Wellsow, warum ausgerechnet jetzt? Der Eindruck entsteht, der #LinkeMeToo-Komplex habe ein ohnehin volles Fass nur zum Überlaufen gebracht. Dass »der Grad an ›Schauze voll‹« bei ihr »relativ hoch« sei, hatte die Thüringerin bereits nach der verlorenen Landtagswahl im Saarland bekundet. Vor gut einem Jahr war sie angetreten, die Partei inhaltlich und strukturell zu erneuern. Doch das Geflecht aus Flügeln und Spektren ist seitdem undurchsichtiger geworden, die Partei erscheint gelähmt. Niederlage folgte Niederlage. Gegen die Vielfalt der Probleme konnte Hennig-Wellsow, die auch eigene Fehler machte – man denke etwa an missglückte Fernsehauftritte – nicht ankommen.
Nun steht Wissler umso mehr in der Verantwortung, die Sexismusvorwürfe aufzuklären – dabei war sie selbst dafür angegriffen worden. Ihr wird nachgesagt, den mutmaßlichen Täter eines sexuellen Übergriffs in Hessen gedeckt, den Fall nicht aufgearbeitet zu haben. Ihr damaliger Partner Adrian G. soll eine junge Frau bedrängt, sie selbst bereits damals davon gewusst haben. Die Vorwürfe bestreitet Wissler und erhält Rückenwind aus ihrem eigenen Landesverband: »Wir werden Janine Wissler an dieser Stelle sehr unterstützen, damit sie ihre Arbeit weiterführen kann«, sagte die hessische Landesvorsitzende Petra Heimer am Donnerstag.
Beratungsgremium wird eingerichtet
Der Parteivorstand erklärte derweil, er bedaure die sexuellen Übergriffe: »Es tut uns leid, dass wir nicht früher darauf reagiert haben«, hieß es in einem am Mittwochabend gefassten Beschluss. Darin wird eine »transparente und vorbehaltlose Aufklärung« der Vorfälle versprochen und beschloss die Einrichtung einer »unabhängigen Beratungsstruktur« angekündigt, in der erfahrene Frauen aus »feministischer Antigewaltarbeit und Betroffenenunterstützung sowie erfahrenen Anwältinnen« tätig werden sollen. Diese soll die Aufklärung der Fälle betreuen, Anlaufstelle für Betroffene sein und Vorschläge für den Umgang mit Sexismus erarbeiten. Auch die hessische Linke zog Konsequenzen: Beschuldigte wurden beurlaubt, Vizelandeschefin Marjana Schott trat zurück.
Doch die Auseinandersetzungen gehen weiter. Sarah Dubiel von der Linkjugend, die sich mit Betroffenen für Aufarbeitung einsetzt, schrieb auf Twitter, ihr sei ein Parteiausschlussverfahren angedroht worden.
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