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Mit Schwarmintelligenz zum Erfolg
Wie der WTSV Concordia aus Hamburg mit Hilfe einer App und großer Mitbestimmung seiner Fans in die Regionalliga stürmen will
»Ich sage gleich Go und dann geht’s los, nech?«, ruft ein sichtlich gestresster Kameramann mit norddeutschem Akzent von einem Kamerapodest herunter. Den Mitarbeiter zu erreichen, ist mit einem lauten Ruf möglich, hier am Sachsenweg, der Heimat des Hamburger Oberligisten Niendorfer TSV. Sein Kollege am Mikrofon ist vom spontanen Beginn der Übertragung überrascht. »Wie? Ich hab doch noch gar keine Aufstellung«, antwortet der Tonverantwortliche. »Na mach einfach so, passt schon!«, kommt es vom Podest zurück. Dann kommt das »Go«, die Übertragung startet und der Moderator ist sofort in seiner Rolle. »Hallo Raketen« begrüßt er die etwa 400 Online-Zuschauer, die die Fünftligapartie zwischen den Niendorfern und dem Wandsbeker TSV Concordia im Youtube-Livestream verfolgen wollen.
Jene Zuschauer, die der Moderator mit Raketen angesprochen hat, sind Teil des Projekts »Club rockit!«, mit dem Concordia die höchste Spielklasse Hamburgs aufmischen will. Ein Projekt, dass weit über die Grenzen der Hansestadt Wellen schlägt. Das Prinzip ist simpel: Möglichst viele Menschen können, sollen und dürfen per App ganz konkret über die Geschicke des Hamburger Traditionsvereins entscheiden - Schwarmintelligenz heißt das Zauberwort. Anstelle einer Handvoll Entscheider in der obersten Klubetage stimmen 500 Fußballbegeisterte online ab: Gelebte Basisdemokratie soll es sein.
Die Idee, den Klub auf die digitale Ebene zu hieven, hatten Vereinspräsident Matthias Seidel, der als Gründer und Geschäftsführer der Website transfermarkt.de vorsteht, und sein langjähriger Freund Stefan Kohfahl. Transfermarkt ist eine der größten Fußballplattformen Deutschlands - Knowhow ist also vorhanden, trotzdem sollen vor allem die Fan-Raketen ran. Damit die App-Nutzer wissen, worüber sie abstimmen sollen, filmen an diesem sonnigen Ostermontag in Niendorf gleich drei Techniker die Partie, zwei Kommentatoren begleiten die Übertragung im Youtube-Stream. Einer der Kameraleute erzählt, so sei es bei jedem Concordia-Spiel - es werde gefilmt, egal, ob es regnet, stürmt oder schneit. Er freue sich über die gute Ausstattung hier in Niendorf, wo die Hauptkamera das Spielgeschehen von einem vier Meter hohen Gerüstturm aus aufnehmen kann.
Neben den Livestreams auf Youtube wird noch fleißig an einer Dokumentation über den Klub gedreht, erklärt der Club-Rockit!-Verantwortliche Stefan Kofahl nicht ohne Stolz. Concordia verfügt über ein Instrumentarium, wie es selbst einige Regionalligisten nicht aufbieten können oder wollen.
Die Heim-Fans am Niendorfer Sportplatz nehmen den Trubel um Concordia schulterzuckend zur Kenntnis - es ist nicht das erste Mal, dass die Gäste mit ihrem Medienteam hier sind. Während Concordia das große Rad drehen will, geben sich die Gastgeber bodenständig. Am Kassenhäuschen sitzt eine patente, ältere Frau, die jeden Besucher mit einem flotten Spruch begrüßt. Das Bier wird für 2,50 Euro von Freiwilligen des Vereins in Plastikbecher gezapft. Für viele Zuschauer in Niendorf ist das aufregender als das Internettreiben von Cordi, wie der Hamburger Verein genannt wird.
Der WTSV Concordia verfolgt mit dem vor mehr als einem Jahr eingeschlagenen Weg ein ambitioniertes Ziel: Aufstieg in die Regionalliga. Zurück in den großen Fußball, das sind die Pläne des ehemaligen Erstligisten. In der Oberliga gehört Cordi nach schweren Jahren wieder zum Stamminventar, auch finanziell steht der Verein auf gesunden Füßen. Die Idee mit der App-Idee kam im Laufe der Corona-Pandemie, die einige Probleme auch im Fußball erst sichtbar gemacht hat. »Wir hatten jede Menge Zeit und dann hatten wir die Idee«, erzählt Klubberater Stefan Kohfahl, der neben seinem Engagement bei Concordia auch als Nachwuchskoordinator von Real Madrid aktiv ist. Bei kleinen Klubs liege aller Druck auf wenigen Personen, sei es finanziell oder auch, was die Entscheidungen anbetrifft. Kohfahl will das bei Cordi anders gestalten: »Wir wollen damit auch die Verantwortlichen aus dem Hamsterrad holen.« Gelebte Teilhabe soll es künftig an der Seitenlinie geben: »Geld geben viele für ihren Verein aus, aber wo dürfen Fans schon aktiv ins Tagesgeschäft eingreifen?«, fragt Kohfahl.
Für einen je nach Abo-Stufe variierenden einstelligen Euro-Betrag bekommen die Concordia-Fans und andere Fußballbegeisterte die Möglichkeit, im realen Leben eine abgespeckte Version des Computerspielklassikers »Fußball Manager« nachzuspielen. Während Concordias Kicker auf dem Platz stehen, können die Raketen in Echtzeit über Spielerwechsel entscheiden oder den Trainer auffordern, die Taktik zu ändern. Zwei Minuten haben die App-Nutzer jeweils Zeit, ihr entsprechendes Votum abzugeben - dann muss Trainer Frank Pieper-von Valtier auf das Abstimmungsergebnis reagieren.
Neben dem Coach von Concordia, der in Niendorf während der ersten Halbzeit aufgeregt vor der Trainerbank auf und ab tigert, steht nicht etwa ein Co-Trainer, sondern ein junger Mann mit einem Tablet in der Hand. Im engen Austausch mit dem Trainer wird während des Spiels immer wieder diskutiert. Doch noch bevor die Community das erste Mal abstimmen darf, ist Pieper-von Valtier bereits eigenständig zum Handeln gezwungen. Als der Abwehrchef Jan Novotny nach dem frühen 0:1-Rückstand verletzungsbedingt ausgewechselt werden muss, schickt Pieper-von Valtier eigenmächtig Vedat Düzgüner auf den Platz.
Trotz des offensiven Wechsels verläuft das Spiel für Concordia weiterhin ernüchternd. Nach der Halbzeitpause gerät sein Team immer mehr unter Druck. Die Community entscheidet dennoch mit der einfachen Mehrheit von 53 Prozent dafür, das Spielsystem beizubehalten. Nach zwei weiteren Gegentreffern beschließt Pieper-von Valtier erneut auf eigene Faust zu handeln und nicht erst die Community zu befragen. Mit einem vierfachen Wechsel möchte er das Spiel noch drehen. Damit ist der Trainer Votings über Spielerwechsel zuvorgekommen, weitere Abstimmungen gibt es danach nicht mehr.
Um seine Autonomie an der Seitenlinie muss Concordias Coach, der seine Brötchen als Oberstudienrat und Sportlehrer an einer Hamburger Eliteschule für Nachwuchsfußballer verdient, nicht fürchten. Die meisten Entscheidungen, wie die genaue Aufstellung, trifft er immer noch selbst. Auch gegen Entscheidungen der Community kann Pieper-von Valtier ein Veto einlegen. Vier dieser Veto-Joker hat der Trainer im Monat zur Verfügung - plus eventuelle Zusatzvetos für gewonnene Spiele. Sind diese Widerspruchsmöglichkeiten vollständig aufgebraucht, entscheidet das Forum über den weiteren Verbleib ihres Übungsleiters. »Frank kann natürlich nicht jede Entscheidung nachvollziehen, lehnt aber die wenigsten ab. Er hat auch große Lust auf das Projekt«, erzählt Stefan Kohfahl.
Abpfiff, 0:3. Heute hat es bei der Niendorfer TSV nicht für einen Sieg gereicht. Die Offiziellen aber bleiben optimistisch. Das Projekt »Club Rockit!« will man bei Cordi auf unbestimmte Zeit durchziehen, da ist sich die Klubführung einig - mit allen Konsequenzen. Doch prominente Beispiele zeigen, dass solch ein Vorhaben nicht so einfach ist, wie es sich die Verantwortlichen vorstellen. Die Inspirationsquelle der App hat, wie könnte es anders sein, ihren Ursprung in England. Dort startete 2007 der Sechstligist Ebbsfleet United mit der Internetplattform myfootballclub ein ähnliches Projekt. Für 35 Pfund im Jahr erhielten dort Fans ein Mitspracherecht über Aufstellungen, Transfers und die Finanzen des Klubs. Zu Spitzenzeiten waren 32 000 Anhänger registriert, um gemeinsam an der Zukunft zu werkeln. Nach einem erfolgreichen Jahr verlängerten viele ihre Mitgliedschaft nicht, drei Jahre später schrumpfte die Community auf 3000 User, an den Votings beteiligten sich nur noch rund 150 Personen. Das Projekt wurde eingestampft, hatte aber immerhin rund 700 000 Euro in die Vereinskasse gespült. Ein ähnliches Konzept beim Regionalligisten Fortuna Köln scheiterte ebenfalls.
Für die Verantwortlichen vom Wandsbeker TSV Concordia bleibt ihr Projekt aber wegweisend. Dafür machen sie der Community auch Zugeständnisse. So wurde mal intensiv über mögliche Neuverpflichtungen debattiert und abgestimmt. Kohfahl, der über ein internationales Netzwerk verfügt, fragte in Brasilien nach, ob dort nicht ein Talent den Sprung in die Hansestadt wagen möchte. Der befreundete Scout sendete mehr als 200 Videos von potenziellen Spielern, die der Community zur Verfügung gestellt wurden. Das Ergebnis: zwei neue Kicker für Cordi - ausgesucht von den Usern. Kohfahl freut sich über die Mitarbeit der Vereinsanhänger: »Das war halt unser Experiment und darüber haben sich viele User die Finger an der Tastatur wundgetippt und uns Analysen eingereicht, für die sonst im Verein niemand Zeit gehabt hätte.« Dass sich nur eine der beiden Neuverpflichtungen als Verstärkung erwies, ist nur eine Randnotiz in der Concordia-Story.
Ob diese Form der angewandten Basisdemokratie und Mitbestimmung im Fußball wohl auch in höheren Spielklassen funktioniert? Die Lizenzunterlagen für die Regionalliga Nord sind bereits beim Norddeutschen Fußball-Verband (NFV) eingereicht. »Dabei sind wir der einzige Verein aus Hamburg«, betont Kofahl. Das heißt: Obwohl der Wandsbeker TSV Concordia in der Aufstiegsrunde der Oberliga Hamburg derzeit nur Vierter ist und Platz eins gar nicht mehr erreichen kann, ist er der einzige Verein dieser Liga, der an der Relegationsrunde mit den Landesmeistern aus Schleswig-Holstein und Bremen sowie dem Zweiten aus Niedersachsen teilnehmen könnte. Anfang Mai entscheidet der NFV, ob Cordi dafür zugelassen wird.
Drei Spiele in der Relegation müssten erfolgreich bestritten werden, um das große Ziel zu erreichen: Aufstieg in die vierte Liga. Bei einem davon würde auch der Jahressieger der App, also der User mit den meisten Erfahrungspunkten, XP genannt, auf der Trainerbank neben Frank Pieper-von Valtier Platz nehmen dürfen. Sollte es nicht mit dem Aufstieg klappen, wird Concordia in der kommenden Saison den nächsten Anlauf starten. »Wir sind entschlossen, diesen Schritt zu gehen und kalkulieren natürlich Risiken mit ein«, erklärt Kohfahl. Dann geht es eben noch einmal auf den beschaulichen Rasenplatz des TSV Niendorf mit Kameraturm und mechanischer Anzeigetafel.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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